DIE OST-WEST-FRIEDENSKIRCHE
11. JUNI 2020
Mitten im Olympiapark, am Rande des großen Kiesplatzes, wo alljährlich das Tollwood-Festival stattfindet, gibt es eine kleine, im Sommer kaum sichtbare grüne Oase der Ruhe und Beschaulichkeit. In einem umzäunten, etwa 2500 Quadratmeter großen Areal findet man einen liebevoll gestalteten Garten mit Blumenwiesen, Gewächshäusern, Obstbäumen und Rosensträuchern, dazu zwei kleine Häuser, eine Kapelle und eine Kirche sowie zwei Verschläge, in denen Bienenstöcke stehen.
Ein Schild vor dem Eingang informiert die Besucher, dass es sich um die „Ost-West Friedenskirche“ handelt.
Die Ost-West-Friedenskirche
Hier lebte mehr als fünfzig Jahre lang Timofei Wassiljewitsch Prochorow, von den Münchnern liebevoll Väterchen Timofei genannt.
Geboren wurde er laut seinen Angaben am 22. Januar 1894 in Bagajewskaja am Don. Verstorben ist er am 13. Juli 2004 in München, also im Alter von 110 Jahren. Nach Jahren der Odyssee kam er von Russland nach Wien, wo er seine spätere Frau Natascha traf. Den Bau einer Kirche in Wien ließen die dortigen Behörden nicht zu, sodass die beiden 1952 nach München kamen. Hier ließen sie sich am Oberwiesenfeld nieder, am Rande des damaligen Flugfelds, aus dem später der Olympiapark werden sollte.
Das Häuschen – heute ein Museum
Aus dem reichlich vorhandenen Kriegsschutt des Zweiten Weltkrieges baute das Paar nach und nach ein kleines Haus, eine Kapelle und später noch eine kleine Kirche. Ohne Hilfe von Architekten und Baumeistern transportierten sie mühevoll das Baumaterial, bestehend aus Schutt, Brettern und Blech mit Rucksack und Schubkarre vom damaligen Münchner Schuttberg bis hier her. Bei der Einrichtung verwendeten sie größtenteils gefundene Materialien. Die Decke der Kirche beispielsweise versilberten sie mit Schokoladenpapier.
Die Ost-West-Friedenskirche
Timofei Prokorow , der seltsame Heilige, Gründer und Vorsteher dieser, wie er es genannt hat, „Christlichen Gemeinde der Erbauer des kirchlichen Gutes der Heiligen Dreifaltigkeit Ost-West“ wurde von den Münchnern sehr geliebt. Sie füllten seine Opferstöcke reichlich mit Scheinen und Silber. Neben der Sozialhilfe lebten Timofej und Natascha hauptsächlich vom Anbau aus ihrem eigenen Garten. Manchmal konnten sie auch Honig, Obst und Gemüse verkaufen, was ihnen ein bescheidenes Leben ermöglichte.
Als Ende der sechziger Jahre die Stätten für die Olympischen Spiele 1972 gebaut werden sollten, wurde ausgerechnet das Oberwiesenfeld auserkoren, die olympischen Sportstätten zu beherbergen. Dort, wo Natascha und Timofej lebten, sollten Springreiter ihr Wesen treiben. Doch die Münchner zogen nicht mit. Es hagelte Proteste, und nach einem Besuch bei Timofej machte sich Olympia-Architekt Günter Behnisch über seine Pläne her. Der teure staatliche Boden mit seinen Schwarzbauten, die Timofei von niemandem erworben und doch mit einem Stachelzaun als Klostergrund umgrenzt hatte, wagte ihm nun niemand mehr, zu entreißen, denn Gott und die Münchner waren sichtbar auf seiner Seite.
„Wir haben gelernt, dass Väterchen Timofej zu den drei Heiligtümern der Münchner gehört, neben den Alleebäumen und den Dackeln“, sagte damals Gerhard Spiegel, Sprecher der Olympia-Baugesellschaft. So konnte diese kleine russische Enklave erhalten bleiben. So etwas konnte nur in München geschehen!
Väterchen Timofei
Im Olympiajahr 1972 heiratete Timofej die 76 Jahre junge Natascha. Fünf Jahre später starb sie. Ihr Wunsch, neben der Kirche begraben zu werden, scheiterte an der Bürokratie. Wo sie liegen wollte, steht heute ein symbolisches Grab.
BUCHTIPP: | |
Väterchen Timofej: Ein Russe erobert die Herzen der Münchner | |
Mit diesem Buch lädt der Autor, Alexander Wutz, die Leser zu einem kleinen illustrierten Rundgang durch die unvergessliche Welt von Väterchen Timofej ein. Auf 84 bunten Seiten wurden historisches Bildmaterial, aktuelle Fotografien, Augenzeugenberichte, Gästebucheinträge, Zeitungsberichte, biografische Auszüge und vieles mehr gesammelt und in einem einmaligen Bildband veröffentlicht. | |
Die Decken der Ost-West-Friedenskirche sind mit Schokoladenpapier ausgekleidet, der Innenraum ist mit Teppichen ausgelegt, die Decke mit Schokoladenpapier ausgekleidet. Es gibt kaum ein Stück Wand, das kein Christus-, Marien- oder Heiligen-Bild verziert.
Das Innere der Kirche
Und die Kirche steht auch heute noch, umgeben von diesem wunderbaren Garten, einem kleinen Museum und der Erzengel-Michaels-Kapelle. Seit dem Tod des Eremiten im Jahr 2004 kümmert sich eine gemeinnützige Stiftung um ihren Erhalt. Das Gelände wurde zu einem kleinen Museum umfunktioniert.
Entzückend ist insbesondere der Garten.
An den Bäumen baumeln Schnuller, Ostereier und Muschelwindspiele. Zwischen verschiedenen Marienfiguren versteckt sich sogar eine Buddhastatue. Und – in dieser Jahreszeit besonders bunt – Blumen, Blumen, Blumen.
In den zum Museum umfunktionierten niederen Räumen des Wohnhauses wird liebevoll die Geschichte des Eremiten anhand vieler Schriften erzählt und durch interessante Bilddokumente ergänzt.
In einem Raum findet man Zeichnungen von Timofejs Garten, die Kinder gemalt haben. Papier und Stifte stehen noch auf dem Tisch. Im Nebenraum steht ein Harmonium. Die Wände werden von Fotos und Zeitungsartikeln, die Timofejs Geschichte erzählen, geschmückt.
Verschiedene Ikonen
Wer im Olympiapark unterwegs ist, sollte einen Abstecher machen und sich Väterchen Timofejs Ost-West-Friedenskirche einmal ansehen. Der Eintritt ist frei und das Museum ist schnell und einfach vom Olympiapark aus zu erreichen. Vom Marienplatz fährt man mit der U-Bahn U3 in Richtung Moosach bis Scheidplatz. Von hier geht es mit dem Bus144 Richtung Rotkreuzplatz weiter bis Olympiaberg
Esoteriker würden die Stelle einen „Kraftort“ nennen. In der Tat ist es ein Plätzchen, wo man, auf einer kleinen Bank sitzend, für beliebige Zeit den Stress der Großstadt vergessen kann und auf eine gewisse Weise „meditieren“ kann: über die ferne Welt des bäuerlichen Russlands, über die Schönheit der Natur oder über die Gedankenwelt des „Methusalems vom Oberwiesenfeld“, des Eremiten mit dem langen, schlohweißen Haar.
Das Bankerl vor der Kapelle
NACHTRAG: AM 11. JUNI 2023 WURDE DIE FRIEDENSKIRCHE VON VÄTERCHEN TIMOFEJ DURCH EINEN BRAND VÖLLIG ZERSTÖRT.
Wird die Kirche jemals wiederaufgebaut? Das wäre eine Frage an den Verein Stiftung Ost-West-Kirche e.V., der sich bisher um die Pflege des Ensembles gekümmert hat. Noch ist die Polizei am Ermitteln.
BUCHTIPP: | |
Glücksorte in München: Fahr hin und werd glücklich | |
Das Buch „Glücksorte in München“ ist eine Einladung zum Besuch von kulturellen, politischen, künstlerischen und sportlichen Orten, die uns das gute Gefühl geben, richtig zu sein. In dieser Stadt sitzt das Glück wirklich an jeder Ecke. Manchmal muss man nur den Stuhl ein bisschen verrücken, das Herz öffnen und sich auf seine Sinne verlassen. | |
BUCHTIPP: | |
München mit anderen Augen sehen | |
Das Buch „München mit anderen Augen sehen: 23 Spaziergänge zu besonderen Orten“ sammelt 23 ganz besondere Touren, erzählt von Orten, die eine ganz besondere Bedeutung haben, vom früheren Hasenjagdrevier der Kurfürsten zu einer Gedenktafel für einen Widerstandskämpfer, zu einem Pilgerweg, der an Schloss Schleißheim vorbeigeht, zur über 800 Jahre alte Heilig-Kreuz-Kirche und vielem mehr. | |