CANDIDPLATZ UND UNTERGIESING
3. MAI 2020
Meine Runde startet in Obergiesing in der Nähe des Grünwalder Stadions auf dem mit Kastanienbäumen bewachsenen Grünspitz. Ein wunderbares Kleinod mitten in einem verkehrsumtosten Bereich.
Hier scheint die Gentrifizierung, die Giesing anderswo bereits fest im Griff hat, noch nicht angekommen zu sein. Der Grünspitz, ein von Kastanien überschattetes Grundstück, das früher einem Autohändler gehörte, ist heute ein vom Verein Green City geführtes Gemeinschaftsprojekt. Hier gibt es einen Kiosk, einen kleinen Biergarten und dazwischen jede Menge Platz, den die Giesinger frei nutzen dürfen.
Kastaniengarten (Giesing)
Vom kleinen Kastaniengarten aus wandern meine Blicke auf die gegenüberliegende Seite der Straße, wo ein gigantisches Street-Art-Gemälde ein Gebäude der Stadtwerke München ziert.
Graffito von Won ABC
Es heißt, München sei ein Vorreiter der Graffiti-Szene in Deutschland gewesen. Nur schade, dann, dass man zum großen Teil nur „Werke“ sieht, die aus gekritzelten Texten, gesprayten Großbuchstaben und Monstergesichtern bestehen, denn solche verunstalten seit Langem zahllose Fußgängerunterführungen, Bauzäune, Schallschutzwände & Co. Was völlig zu fehlen scheint, sind hingegen inspirierende Großgemälde an Häuserfassaden!
Dieses wohl größte Mural Münchens hat mich deshalb völlig überrascht! Urheber ist der bekannte Künstler WON ABC (Markus Müller), der Ende 2019 anlässlich des hundertsten Geburtstags des Freistaats Bayern das Kunstwerk angefertigt hat. Es enthält Motive der Räterepublik von 1918. Dargestellt sind deren Anführer. Die nötigen Fördergelder wurden von der Stadt München und der Stadtsparkasse bereitgestellt.
Auf der Nordseite des Gebäudes malte WON ABC ein weiteres Mural, das sich ebenso über die ganze Hauswand erstreckt.
Löwen-Graffito von Won ABC
Auf dem Bild treten zwei Gestalten gegeneinander an: „Bluebier“, eine skelettierte Version des TSV-1860-Löwen, gegen Robin „Bluebeard“ Page, mit seinem charakteristischen blauen Bart und Boxhandschuhen. Das Wandgemälde wurde Müllers verstorbenem Lehrer Robin Page gewidmet.
Die Serpentinen der Candidstraße führen den Hang hinunter zum Candidplatz. Benannt wurden beide nach dem flämischen Maler Peter Candid (eigentlich Pieter de Witte), der im 16. Jahrhundert in München und Umgebung viele Altarbilder malte.
Der Candidplatz in Untergiesing ist wahrlich kein Schmuckstück. Besonders das Areal unter den Brückenpfeilern des Mittleren Rings ist Teil der Verschandelungen, die der Autoverkehr in unserer Stadt verursacht hat.
Die hässliche Schneise des Mittleren Rings
Um den Aufprall dieser Hässlichkeit zu dämpfen, wurden vor einigen Jahren mit Unterstützung des Baureferates die Säulen der Brücke am Candidplatz von international anerkannten Künstlern gestaltet. Es entstand die sogenannte „Brückengalerie“.
Die „Verschönerung“
„Herakut“ ist ein deutsches Künstlerduo (Jasmin Siddiqui und Falk Lehmann) aus der Street-Art-Szene. Das Duo Herakut thematisiert den Umgang mit Flüchtlingen.
„Wenn wir den Suchenden die Zuflucht verwehren, was für Menschen sind wir dann?“
Unweit der Brückengallerie befindet sich – direkt am Auer Mühlbach – der Jugendtreff AKKU, eine städtische Einrichtung des Kreisjugendrings. Oben lärmen die Autos auf dem Mittleren Ring, unter der Brücke spielen einige Jugendliche auf der Außenfläche des AKKU. Die Brückensäulen gegenüber des blauen Hauses wurden unter der Anleitung des Graffiti-Künstlers Julian Momboisse kunstvoll gestaltet.
Jugendtreff
Ein paar Schritte weiter befindet sich ein weiterer Street-Art-Hotspot. Großflächige Graffiti zieren die Mauern der Lohstraße entlang des Auer Mühlbachs.
„Anana-Burger“ von HNRX, 2016
Mein weiterer Spaziergang verläuft im Wesentlichen innerhalb jenes Teils von Untergiesing, der südlich der Bahntrasse liegt. Wer hier starten will, erreicht problemlos den Candidplatz mit der U-Bahn U2.
Aus der Sicht des schnell vorbeifahrenden Autofahrers ist die nach dem 1784 vom Hofbankier Franz Anton Pilgram erbauten Schlösschen Pilgramsheim benannte Pilgersheimer Straße kein besonderer Blickfang. Schlichte und dicht aneinander gereihte Mietshäuser prägen bis heute das Bild der Straße.
BUCHTIPPS: | |
Reiseführer „Herzstücke in München“: besonderes abseits der bekannten Wege | |
Weit weg von Touristenströmen zeigt Ihnen dieser Reiseführer, wo sie das wahre München kennenlernen können - egal, ob als Einheimischer oder Tourist. Bei Ausflügen in der Natur, in Kulturstätten und Veranstaltungen, im neuen kleinen Lieblingsladen oder bei einem köstlichen Stück Kuchen im gemütlichen Café. | |
Als Fußgänger unterwegs zeigt sich mir hingegen ein anderes, interessanteres Bild. Neben einer Reihe von schönen Mietshäusern aus der Jahrhundertwende fallen die extremlangen Wohnblöcke an der rechten Straßenseite auf. Eine der Fassaden ist 275 Meter „am Stück“ lang!
Es handelt sich um eine der größten Wohnanlagen Münchens, die sich zwischen der Pilgersheimer Straße und dem Auer Mühlbach erstreckt. Wo zwischen 1808 und 1930 Europas größte Lederfabrik stand, erstreckt sich entlang der Pilgersheimer Straße eine 200 Meter lange ocker-orange Häuserzeile, hinter der sich weitere Häuserzeilen verstecken.
Siedlung an der Waldeckstraße
Die Großwohnanlage auf der Seite des Auer Mühlbachs
Zwischen der Pilgersheimer Straße, der Kleist- und der Cannabichstraße fällt die 1927 von Helmuth Wolff entworfene olivgrüne Großwohnanlage im Stil der Neuen Sachlichkeit besonders auf. Der südliche Abschluss des westlichen Wohnblocks bildet der kurze Gebäudeflügel entlang der Cannabichstraße, von wo aus sich früher die Lederfabrik nach Süden erstreckte.
Pilgersheimer Straße/ Ecke Kleiststraß
An der Nordwestseite zwischen Pilgersheimer Straße und Kleiststraße befindet sich an einer Gartenmauer ein Wandbrunnen mit Relief zum Gedenken an die Erbauung der Wohnanlage.
Wandbrunnen mit Relief
Untergiesing hat an manchen Ecken noch immer den Charakter einer ehemaligen Arbeitervorstadt, fast dörflich, kleinteilig und gemütlich. Im Schatten der Hauptverkehrsstraßen haben sich dort auch noch vereinzelt Wohnquartiere mit Kleinwohnhäusern erhalten. Beispielsweise rund um die Mondstraße, eine idyllische Ecke, die nicht umsonst den Namen „Münchens Klein-Venedig“ trägt. Die ganze Mondstraße steht unter Ensembleschutz.
Mondstraße
Die Bezeichnung beruht vor allem auf dem freigelegten Auer Mühlbach und den – mittlerweile sehr beliebten und unerschwinglichen – Herbergshäuschen am Mühlbach selbst.
Mondstraße
Die Heilig-Kreuz-Kirche gesehen von der Mondstraße
Links von der Pilgersheimer Straße verliert sich dieser Charakter von Arbeitervorstadt früherer Zeiten. Der Wiederaufbau nach den Kriegszerstörungen hat zu einem Nebeneinander von historischen Bauten und Nachkriegsarchitektur geführt, welches kaum Flair erzeugt.
Wohnhausanlage (Hans-Mielich-Straße)
Gleich gegenüber einer uninteressanten 08/15-Wohnanlage befindet sich der imposante zweitürmige Neubarockbau der Sankt-Franziskus-Kirche (1925/26 von Richard Steidle). Was für ein Kontrast!
Sankt-Franziskus-Kirche
Zwei Straßen weiter, in der Arminiusstraße, kann man die barockisierende, denkmalgeschützte Wohnhausanlage (1927/28 von Steidle und Sepp) bewundern. Diese dauernde Abwechslung zwischen Vor- und Nachkriegsarchitektur bringt mich zum Grübeln. Wie schön muss München vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein. Welchen Charme muss Untergiesing damals ausgestrahlt haben!
Wohnhausanlage in der Arminiusstraße
Etwas aus jenen Jahren ist doch geblieben. Ich kann mich noch gut daran erinnern – ich fuhr früher öfters mit der Bahn die Südring-Strecke –, wie ich im Vorbeifahren vom Abteilfenster aus dank des hohen Bahndamms die schönen Fassaden der Giesinger Häuser betrachten konnte. Ein schöner Stadtteil, dachte ich. Das ist allerdings passé: Seit die Deutsche Bahn 2014 eine 1,1 km lange Lärmschutzwand hochgezogen hat, können Bahnpassagiere nicht mehr in die Suppenteller der Giesinger Anwohner gucken. Dafür werden Letztere weniger vom Lärm der vorbeifahrenden Züge geplagt.
Bahndamm-Teutoburger-Strasse
Entlang der Gleise der Bahnlinie München-Rosenheim zog sich zunächst eine 1,1 Kilometer lange, 3 Meter hohe, graue Mauer durchs Viertel. Das durfte ziemlich trostlos gewesen sein. Man wollte die Wände mit Efeu bewachsen lassen, auf jeden Fall irgendwie begrünen, eine Graffiti-Szene lehnte man aber ab. Bis es schließlich die Bürgerinitiative – Weiterleben in Untergiesing – schaffte, bei den Bahn-Verantwortlichen eine Genehmigung für eine Bemalung zu bekommen.
Graffiti
Bereits vor dem Bau der Lärmschutzwand hatte es „verschönernde“ Änderungen am Hans-Mielich-Platz gegeben: den Kinderspielplatz, eine Freiluft-Schachanlage, Verkehrsberuhigung. Die Bürgerinitiative hat ganze Arbeit geleistet.
Die Lärmschutzwand mit ihren Graffiti und die dicht bewachsene Böschung des Bahndamms haben den Bereich noch mehr zu etwas Besonderem gemacht. Mir drängt sich der Eindruck auf, als wurde ich mich in einem intimen, beschützten Raum befinden, in dem Langsamkeit vorherrscht. Der große verkehrsberuhigte Platz, die Häuserzeile mit dem griechischen Restaurant, ein paar besetzte Tische im Freien: Sie strahlen fast den Flair einer südlichen Piazza aus.
Am Hans-Mielich-Platz
Der kleine aber gemütliche Biergarten des Gasthauses Giesinger Garten kommt mir gerade recht, um die Eindrücke meines Spaziergangs bei einem Hellen und einer bayerischen Brotzeit ausklingen zu lassen.
Der Giesinger Garten
Auf dem Weg zurück zum Candidplatz komme ich an der denkmalgeschützten, 1905-07 erbauten Grundschule am Agilolfinger Platz vorbei. Das Schulhaus ist eine der großen Münchner Grundschulen der Jahrhundertwende. Mit seinem steilen Satteldach, Giebeln und säulenverzierten Eingängen erscheint es wie ein Schloss – für Kinder ist es ihr „Schulschloss“. Das Haus gibt es seit mehr 110 Jahren, und es kann auf eine reiche Geschichte zurückblicken.