600 METER DACHAUER STRASSE
25. AUGUST 2020
Die Dachauer Straße gehört sicher nicht zu den Prachtstraßen Münchens. Zwischen dem Löwenbräukeller und Moosach kann man weniger als ein Dutzend Gebäude zählen, die unter Denkmalschutz stehen. Erwogen habe ich diesen Spaziergang nur, weil ich ein interessantes Wandgemälde aus der Nähe sehen wollte. Dennoch kann man interessante Entdeckungen niemals ausschließen, sofern man genügend Neugierde mitbringt.
Mein Spaziergang beginnt an der Lothstraße, welche die Grenzstraße zwischen den Stadtteilen Maxvorstadt (südöstlich) und Neuhausen-Nymphenburg (nordwestlich) ist. Unmittelbar an der Kreuzung mit der Dachauerstraße steht der auffallende Bau des Zeughauses. Als Zeughaus wird ein Gebäude bezeichnet, in dem Waffen und militärische Ausrüstungsgegenstände gelagert und instandgesetzt wurden. Heute erfüllen Arsenale die ursprüngliche Aufgabe der Zeughäuser.
Das Zeughaus
Der markante Sichtziegelbau mit Rundbogenfenstern und Zinnentürmchen wurde als Repräsentationsbau für die bayerische Armee und als Waffenlager von 1862 bis 1865 in der Lothstraße errichtet. Das Gebäude war damals Teil des Kasernenviertels zwischen Schwabing und Neuhausen. In den Folgejahren diente es als Armeemuseum, Waffenlager und Oberfeuerwerkerschule. Seit den 1950er-Jahren wurde es als Verwaltungs- und Lehrgebäude genutzt, zuletzt bis 2013 von der Technischen Universität München. Seit Oktober 2018 fungiert es als Domizil der Fakultät für Design.
Das Gebäude strahlt auch nach außen: Denn es bildet den Auftakt zum neuen Kreativquartier, das auf dem Gelände der ehemaligen Luitpoldkaserne entsteht.
An der Hauswand der Dachauer Straße 100 kann man seit 2018 eine bunte Fantasiewelt aus surrealen Objekten und Lebewesen bewundern. Es ist das Zweite von insgesamt drei Murals (in München) des in Mexiko lebenden spanischen Künstlers Liqen. Gefördert wurde das neue Werk von der Stadt München und dem Kunstverein Positive Propaganda.
Liqen ist ein Pseudonym, das auf dem Wort „Flechte“ basiert, einem Organismus, der aus der Symbiose zwischen Pilzen und einzelligen Algen hervorgeht und das Hauptinteresse des Künstlers widerspiegelt: Biologie, insbesondere Lebewesen, die zu klein erscheinen, um wichtig zu sein, und dennoch Tausende Jahre überlebt haben.
BUCHTIPP: | |
Icons of Street Art: Big Murals | |
BIG MURALS – riesige, ganze Häuserfassaden einnehmende Kunstwerke, oft mit politischer und gesellschaftskritischer Botschaft: Der Bildband »Icons of Street Art« zeigt in Aufnahmen des Fotografen Michael Harker die besondere Strahlkraft und Bedeutung dieser Straßenkunst an Beispielen aus Berlin, Lissabon, Paris oder New York City. | |
Neben diesem Gebäude befindet sich der neue Erweiterungsbau der Hochschule München, fast 10.500 m² Geschossfläche mit Vorlesungs- und Seminarräumen sowie Tiefgaragenstellplätzen. In Abstimmung mit der Landeshauptstadt München hatte der Investor einen Wettbewerb für Fassadengestaltung und Freiflächen ausgeschrieben. Die Gebäudekonzeption von Steidle Architekten bekam den Zuschlag.
Hochschule für angewandte Wissenschaften
Für die Fassaden wurde eine gleichmäßige Perforation mit unterschiedlich großen Öffnungen realisiert. In Anlehnung an das benachbarte Zeughaus wurde für den vorderen Teil eine mehrfarbige Ziegelfassade realisiert, die ein eigenständiges modernes Erscheinungsbild erzeugt.
Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Hochschulbau – von Süden aus betrachtet – volumenmäßig sehr gut in das architektonische Umfeld integriert (Bild mit der Wandmalerei), während aus der nördlichen Perspektive die schiere Größe des Komplexes die daneben stehenden Häuser fast erdrückt.
Viel von der alten Bausubstanz ist in diesem Bereich der Dachauer Straße nicht übrig geblieben. Neben dem erwähnten Zeughaus in der Lothstraße findet man hier nur noch ein paar unter Denkmalschutz stehende Gebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts: ein Mietshaus, historisierend, mit drei Erkern und Schweifgiebel in der Dachauer Straße 102 und zwei symmetrische Wohnblöcke mit Erkern, Mittelgiebeln und Eckzwiebeltürmchen in der Dachauer Straße 106/108.
Dachauer Strasse 106
Dachauer Strasse 108
Weiter nördlich wäre durch die architektonische Leere, die entlang der Straße den Ton angibt, eigentlich Trostlosigkeit angesagt. Ich betone hier „wäre“, denn eine Reihe von weithin sichtbaren bunten Containern und bedrohlich wirkende graublaue, dunkle Gewitterwolken erzeugen ein Farbenschauspiel, das mich tief beeindrückt und Begeisterung aufkommen lässt.
Dazu sollte man wissen, dass sich östlich von der Dachauer Straße, wo früher die Artillerie-Werkstätten waren, und direkt an der Schwere-Reiter-Straße das Schwere-Reiter–Tanz-Theater und das Atelierhaus befinden. Dieses Kulturzentrum bietet seit Längerem Infrastruktur für zeitgenössische Produktionen, Kooperationen und Gastspiele im Bereich Tanz, Theater und Musik. Im diesem Areal und rund um die Luitpold-Kaserne soll auf fünf Hektar das Kreativquartier entstehen.
Auf dem Areal wurden von der Münchner Gewerbehof- und Technologiezentrumsgesellschaft (MGH) eine Containeranlage mit temporären Ateliers und anderen Arbeitsräumen für die Kreativwirtschaft aufgestellt. Zur Dachauer Straße hin sind die Container in vielen bunten Farben lackiert, im Innenbereich hingegen einfarbig, um Nutzern selbst noch Gestaltungsmöglichkeiten zu geben. Das Farbkonzept wurde im Auftrag der Stadt vom Tele-Internetcafe entworfen.
Mobile Räume
Dieses Planungsbüro hat auch das Gesamtkonzept für das Kreativquartier erarbeitet. Die Zwischennutzung soll vielleicht sogar bis zu acht Jahre dauern. Auf dem Gelände gibt es bereits heute eine lebendige Szene, die seit Jahren vielfältige und interdisziplinäre kreative Freiräume schafft und pflegt. Hier betreiben Künstler und Designer Ateliers, Studios und Werkstätten.
Proben- und Aufführungsbühnen der freien darstellenden Künste finden sich ebenso wie Einrichtungen und Initiativen der künstlerisch-kulturellen Bildung. Dieses Gelände steht für Diversität und Heterogenität und überrascht mit alten Industriebauten, bunten Graffiti und wild wuchernden Gärten, und schafft so eine inspirierende Atmosphäre.
Mural auf dem Gebäude des MUCCA (Munich Center of Community Arts)
Das Areal zwischen Leonrodstraße, Lazarett- und Dachauer Straße war ab Mitte des 19. Jahrhunderts von Kasernen geprägt. In Neuhausen waren mehr als 30% der Einwohner Soldaten, was dem Quartier den Beinamen „Kasernenviertel“ verlieh. Allein die 1860 erbaute Max-II-Kaserne sollte mit 3.000 Soldaten zur größten Kaserne der Stadt aufsteigen.
Dachauerstraße um 1922
All diese Militäranlagen und die Max-II-Kaserne wurden im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört.
Die Zerstörung der Deutschen Städte hatte den Stadtplanern die Chance zu einem Neuanfang gegeben. Einige Städte entschieden sich für einen vermeintlich gesellschaftlich-urbanen Fortschritt, andere wollten wieder an die Geschichte anknüpfen. Ein gelungenes Beispiel dafür ist der Prinzipalmarkt in Münster.
Die MAX II. KASERNE (1938)
Hier (Leonrodplatz/Leonrodstraße) wurde leider nicht an die Geschichte angeknüpft. Man entschied sich für ein architektonisches Massaker!
Die selbe Stelle (2020)
Es ist zwar verständlich, dass die erste Phase des Wiederaufbaus von akutem Wohnungsmangel geprägt war, und dass sich Architekten, Städteplaner und Bauherren auf die Notwendigkeit beriefen, den Bedarf rasch zu decken. Was Städteplanern nach dem Krieg allerdings als erstrebenswert erschien, erscheint heute nicht selten als ein Irrweg. Was der Bombenkrieg nicht zerstört hatte, übernahmen die Städteplaner.
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Als ich an der anderen Straßeseite den Weg zurück gehe, begegne ich ausschließlich triste Einfallslosigkeit: kammartig quer zur Hauptstraße aufgereihte Wohnblöcke, heruntergekommen und gesichtslos, von kaum benutzbaren, weil direkt an der lauten Straße gelegen, Grünflächen getrennt.
Die Monotonie einer Nachkriegssiedlung
Der weitere Verlauf meines Spaziergangs gestaltet sich ziemlich unspektakulär. Nach der Schau der Gewitterwolken – tatsächlich gefolgt von einem kräftigen Regenguss – hat der Himmel auf Grau geschaltet, als möchte er den Eindruck von Tristesse noch verstärken. Eine Tristesse, die sich auch in der Architektur manifestiert. Bis in die 1980er-Jahre war der Glaube an Verdichtung (sprich: Massenwohnungsbau und nicht menschengerechte Dimensionen) eines der Mantras des Städtebaus.
Wohnblock Ecke Lazarett-Straße
Als ich in die Lazarettstraße einbiege, stoße ich auf ein Gebäude, dessen Fassade sich mit kräftigen Farben dem atmosphärischen Grau entgegenstellt. Auf Anhieb würde ich sagen: „Es hat was! “. Nähere Beschreibung? Ich versuche es gar nicht und greife ich auf die Formulierung eines Profis zurück: „In extremer Vergrößerung zur Geltung kommende Erscheinungen in dottergelb und blau-grün: Medusen, Andromedanebel, Unterwasserwelten, Inselgestade, Pflanzen oder Sternenhimmel ferner Galaxien. Mit den Farben von Anthony Werner Farben fusionieren Natur, Architektur und Kunst“. Etwas einzuwenden? Na also!
Das Gebäude beherbert die Kita „Herzerl“, die für Kinder von Studierenden und Beschäftigten der Hochschule München sowie des Deutschen Herzzentrums gedacht ist.
Auf einem kleinen Areal zwischen der Kita und dem Park des Herzzentrums an der Lazarettstraße stoße ich auf eine merkwürdige Installation: Die Figur eines Menschenaffen steht zwischen zwei Spiegeln, in denen sich seine Gestalt mehrfach spiegelt. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, wofür das Ensemble steht. Für einen Spiegeltest, der die Selbstwahrnehmung, also das Ich-Bewusstsein des Tieres beweisen soll? Dass Schimpansen diesen Test bestehen, ist ja bekannt. Aber weshalb hier?
Weiter in Richtung Stiglmeierplatz nimmt die Attraktivität der Dachauer Straße weiter ab. Und das ist merkwürdig, denn man könnte vermuten, dass in einer Gegend, in der sich zahlreiche Hochschulinstitute befinden, es auch so etwas wie ein studentisches Leben mit den dazugehörigen Bars und Kneipen geben müsste. Ich entdecke aber nur den von Hecken umfassten kleinen Biergarten des Café Bar Mellow.
Im Garten befinden sich Korbstühle und Tische unter einem großen Sonnendach: so wie in den Cafés an den Stränden der Welt. Man lehnt sich in die Korbstühle zurück und kann sich sich unter den Palmen ein wenig wie in der Karibik fühlen! Es sieht gemütlich aus und ein wenig südamerikanisches Flair ist nicht zu leugnen.
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Weiter unten an der Ecke zur Erzgießereistraße ein letztes denkmalgeschüztes Haus. Ich wundere mich fast, hier noch einen Anschein von intaktem historischen Stadtbild zu finden.
Damit ist es aber wieder gleich aus. Es folgt eine Reihe von Gebäuden mit schmucklosen, modernen Fassaden, in deren Erdgeschossen sich so heimelige Geschäfte wie eine Wäscherei, ein Pizzaservice und ein thailändischer Massagesalon befinden. Man spürt schon fast einen Hauch von Bahnhofsgegend-Ambiente.
Die Ostseite des Dachauer Straße ist auf dieser Höhe noch weniger attraktiv. Moderne Verwaltungs- und Hochschulbauten, die an Hässlichkeit kaum zu überbieten sind, drängen mich zum Beenden dieses kleinen Spaziergangs.
Man sollte niemals das Bedürfnis der Menschen unterschätzen, ihre Umwelt zu „verschönern“. So entdecke ich im Eingangsbereich der Grundschule an der Dachauer Straße 98 auf einer kleinen Steinsäule eine „Ikarus“-Statue.
Und ganz in der Nähe davon eine weitere Überraschung: Die Fassade der Stadtischen Sporthalle ist durch ein weiteres „Mural“ von Liqen geschmückt.
Liqen: Cucatraffic
Der 1980 in Vigo, einer Hafen- und Industriestadt Galiziens in Spanien, geborene Liqen ist derzeit einer der wichtigsten Streetart-Künstler der spanischen Szene. Der Galizier zeigt nicht nur einen akribischen und persönlichen Zeichenstil, sondern ist auch in der Lage, auf kraftvolle und direkte Art die Botschaft seiner Arbeiten verständlich zu machen.