MÜNCHNER  SPAZIERGÄNGE

STAND: JANUAR 2024


600 METER DACHAUER STRASSE


25. AUGUST 2020

Die Dachauer Straße gehört sicher nicht zu den Prachtstraßen Münchens. Zwischen dem Lö­wen­bräu­keller und Moosach kann man weniger als ein Dutzend Gebäude zählen, die unter Denk­mal­schutz stehen. Erwogen habe ich diesen Spa­zier­gang nur, weil ich ein interessantes Wand­ge­mälde aus der Nähe sehen wollte. Dennoch kann man in­te­res­san­te Entdeckungen niemals ausschließen, sofern man genügend Neugierde mitbringt.

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Mein Spaziergang beginnt an der Lothstraße, wel­che die Grenzstraße zwischen den Stadtteilen Max­vorstadt  (südöstlich) und Neuhausen-Nym­phen­burg  (nordwestlich) ist. Unmittelbar an der Kreu­zung mit der Da­chau­er­straße steht der auf­fal­len­de Bau des Zeughauses. Als Zeughaus wird ein Ge­bäude bezeichnet, in dem Waffen und mi­li­tä­ri­sche Ausrüstungsgegenstände gelagert und in­stand­ge­setzt wurden. Heute erfüllen Arsenale  die ur­sprüng­liche Aufgabe der Zeughäuser.

Das Zeughaus

Der markante Sichtziegelbau mit Rund­bo­gen­fens­tern und Zinnentürmchen wurde als Re­prä­sen­ta­tions­bau für die bayerische Armee und als Waf­fen­lager von 1862 bis 1865 in der Lothstraße er­rich­tet. Das Gebäude war da­mals Teil des Kasernenviertels  zwischen Schwabing  und Neuhausen. In den Fol­gejahren diente es als Ar­mee­mu­seum, Waf­fen­la­ger und Oberfeuerwerkerschule. Seit den 1950er-Jah­ren wurde es als Verwaltungs- und Lehrgebäude ge­nutzt, zuletzt bis 2013 von der Technischen Uni­ver­sität München. Seit Oktober 2018 fungiert es als Domizil der Fakultät für Design.

Das Gebäude strahlt auch nach außen: Denn es bildet den Auftakt zum neuen Kreativquartier, das auf dem Gelände der ehemaligen Luitpoldkaserne  entsteht.


An der Hauswand der Dachauer Straße 100  kann man seit 2018 eine bunte Fantasiewelt aus sur­rea­len Ob­jek­ten und Lebewesen bewundern. Es ist das Zweite von insgesamt drei Murals  (in München) des in Mexiko lebenden spanischen Künst­lers Liqen. Gefördert wurde das neue Werk von der Stadt München und dem Kunst­verein Positive Pro­pa­gan­da.

Liqen: ExHuman The Cabinet of Curiosities

Liqen ist ein Pseudonym, das auf dem Wort „Flechte“ basiert, einem Organismus, der aus der Symbiose zwi­schen Pilzen und einzelligen Algen hervorgeht und das Hauptinteresse des Künstlers widerspiegelt: Bio­lo­gie, insbesondere Lebewesen, die zu klein erscheinen, um wichtig zu sein, und dennoch Tausende Jahre überlebt haben.


BUCHTIPP:
Icons of Street Art: Big Murals
BIG MURALS – riesige, ganze Häuserfassaden einnehmende Kunstwerke, oft mit politischer und gesellschaftskritischer Botschaft: Der Bildband »Icons of Street Art« zeigt in Aufnahmen des Fotografen Michael Harker die besondere Strahlkraft und Bedeutung dieser Straßenkunst an Beispielen aus Berlin, Lissabon, Paris oder New York City.

Neben diesem Gebäude befindet sich der neue Erweiterungsbau der Hochschule München, fast 10.500 m² Geschossfläche mit Vorlesungs- und Se­mi­nar­räumen sowie Tiefgaragenstellplätzen. In Ab­stim­mung mit der Lan­deshauptstadt München hatte der Investor einen Wettbewerb für Fas­sa­dengestaltung und Freiflächen ausgeschrieben. Die Ge­bäu­de­konzeption von Steidle Architekten  bekam den Zuschlag.

Hochschule für angewandte Wissenschaften

Für die Fassaden wurde eine gleichmäßige Per­fo­ra­tion mit unterschiedlich großen Öffnungen rea­li­siert. In An­lehnung an das benachbarte Zeug­haus wurde für den vorderen Teil eine mehrfarbige Zie­gelfassade rea­li­siert, die ein eigenständiges mo­der­nes Erscheinungsbild erzeugt.

Es ist interessant zu beobachten, wie sich der Hochschulbau – von Süden aus betrachtet – volumenmäßig sehr gut in das architektonische Umfeld integriert (Bild mit der Wandmalerei), während aus der nördlichen Perspektive die schiere Größe des Komplexes die daneben stehenden Häuser fast erdrückt.


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Viel von der alten Bausubstanz ist in diesem Bereich der Dachauer Straße nicht übrig geblieben. Neben dem erwähnten Zeughaus in der Lothstraße findet man hier nur noch ein paar unter Denkmalschutz stehende Gebäude vom Anfang des 20. Jahr­hun­derts: ein Mietshaus, historisierend, mit drei Erkern und Schweifgiebel in der Dachauer Straße 102 und zwei symmetrische Wohnblöcke mit Erkern, Mittelgiebeln und Eck­zwie­bel­türmchen in der Dachauer Straße 106/108.

Dachauer Strasse 106

Dachauer Strasse 108


Weiter nördlich wäre durch die architektonische Leere, die entlang der Straße den Ton angibt, ei­gentlich Trostlosigkeit angesagt. Ich betone hier „wäre“, denn eine Reihe von weithin sichtbaren bunten Contai­nern und bedrohlich wirkende grau­blaue, dunkle Ge­wit­ter­wolken erzeugen ein Far­benschauspiel, das mich tief beeindrückt und Be­geisterung auf­kom­men lässt.

Dazu sollte man wissen, dass sich östlich von der Dachauer Straße, wo früher die Artillerie-Werk­stät­ten waren, und direkt an der Schwere-Reiter-Straße das Schwere-Reiter–Tanz-Theater und das Atelierhaus befinden. Dieses Kul­tur­zen­trum bietet seit Längerem Infrastruktur für zeitgenössische Produktionen, Kooperationen und Gastspiele im Bereich Tanz, Theater und Musik. Im diesem Areal und rund um die Luitpold-Kaserne soll auf fünf Hektar das Kreativquartier entstehen.

Auf dem Areal wurden von der Münchner Gewerbehof- und Technologiezentrumsgesellschaft (MGH) eine Con­tai­neranlage mit temporären  Ateliers und an­deren Arbeitsräumen für die Kreativwirtschaft aufgestellt. Zur Dachauer Straße hin sind die Container in vielen bunten Farben lackiert, im Innenbereich hingegen ein­far­big, um Nutzern selbst noch Ge­stal­tungs­mög­lich­keiten zu geben. Das Farb­kon­zept wurde im Auftrag der Stadt vom Tele-Internetcafe entworfen.

Mobile Räume

Dieses Planungsbüro hat auch das Gesamtkonzept für das Kreativquartier erarbeitet. Die Zwi­schen­nut­zung soll vielleicht sogar bis zu acht Jahre dau­ern. Auf dem Gelände gibt es bereits heu­te eine le­ben­dige Szene, die seit Jahren viel­fäl­ti­ge und in­ter­disziplinäre kreative Freiräume schafft und pflegt. Hier betreiben Künstler und Designer Ate­liers, Stu­dios und Werkstätten.

Proben- und Aufführungsbühnen der freien dar­stel­lenden Künste finden sich ebenso wie Ein­rich­tun­gen und Initiativen der künstlerisch-kul­tu­rel­len Bildung. Dieses Gelände steht für Diversität und Heterogenität und überrascht mit alten Industriebauten, bunten Graffiti und wild wu­chern­den Gärten, und schafft so eine in­spirierende Atmosphäre.

Mural auf dem Gebäude des MUCCA (Munich Center of Community Arts)


Das Areal zwischen Leonrodstraße, Lazarett- und Dachauer Straße war ab Mitte des 19. Jahr­hunderts von Kasernen geprägt. In Neuhausen waren mehr als 30% der Einwohner Soldaten, was dem Quartier den Beinamen „Kasernenviertel“ verlieh. Allein die 1860 erbaute Max-II-Kaserne sollte mit 3.000 Sol­daten zur größten Kaserne der Stadt auf­steigen.

Dachauerstraße um 1922

All diese Militäranlagen und die Max-II-Kaserne wur­den im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört.

Die Zerstörung der Deutschen Städte hatte den Stadtplanern die Chance zu einem Neuanfang ge­geben. Einige Städte entschieden sich für einen ver­meint­lich gesellschaftlich-urbanen Fortschritt, andere wollten wieder an die Geschichte an­knüp­fen. Ein gelungenes Beispiel dafür ist der Prin­zi­pal­markt  in Münster.

Die MAX II. KASERNE (1938)

Hier (Leonrodplatz/Leonrodstraße) wurde leider nicht an die Geschichte an­ge­knüpft. Man entschied sich für ein ar­chi­tek­to­ni­sches Massaker!

Die selbe Stelle (2020)

Es ist zwar verständlich, dass die erste Phase des Wiederaufbaus von akutem Wohnungsmangel ge­prägt war, und dass sich Architekten, Städteplaner und Bauherren auf die Notwendigkeit beriefen, den Bedarf rasch zu decken. Was Städteplanern nach dem Krieg allerdings als er­stre­bens­wert erschien, erscheint heute nicht selten als ein Irrweg. Was der Bom­ben­krieg nicht zerstört hatte, übernahmen die Städteplaner.


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Münchens Stadtviertel in Geschichte und Gegenwart
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Als ich an der anderen Straßeseite den Weg zu­rück gehe, begegne ich ausschließlich triste Ein­falls­losigkeit: kammartig quer zur Hauptstraße auf­ge­reih­te Wohnblöcke, heruntergekommen und ge­sichts­los, von kaum benutzbaren, weil direkt an der lauten Straße gelegen, Grünflächen getrennt.

Die Monotonie einer Nachkriegssiedlung

Der weitere Verlauf meines Spaziergangs gestaltet sich ziemlich unspektakulär. Nach der Schau der Ge­wit­ter­wolken – tatsächlich gefolgt von einem kräftigen Regenguss – hat der Himmel auf Grau ge­schaltet, als möch­te er den Eindruck von Tris­tes­se noch verstärken. Eine Tristesse, die sich auch in der Architektur ma­ni­festiert. Bis in die 1980er-Jahre war der Glaube an Verdichtung (sprich: Mas­sen­woh­nungs­bau und nicht men­schen­ge­rech­te Dimen­sionen) eines der Mantras des Städtebaus.

Wohnblock Ecke Lazarett-Straße

Als ich in die Lazarettstraße einbiege, stoße ich auf ein Gebäude, dessen Fassade sich mit kräftigen Farben dem atmosphärischen Grau entgegenstellt. Auf Anhieb würde ich sagen: „Es hat was! “. Nähere Beschreibung? Ich versuche es gar nicht und greife ich auf die Formulierung eines Profis zurück: „In extremer Ver­grö­ßerung zur Geltung kommende Erscheinungen in dottergelb und blau-grün: Medusen, An­dro­me­danebel, Un­ter­was­ser­welten, In­sel­ge­stade, Pflan­zen oder Ster­nen­him­mel ferner Ga­la­xien. Mit den Farben von Anthony Wer­ner Farben fu­sio­nieren Natur, Architektur und Kunst“. Etwas einzuwenden? Na also!

Das Gebäude beherbert die Kita „Herzerl“, die für Kinder von Stu­die­ren­den und Be­schäftigten der Hochschule München sowie des Deut­schen Herzzentrums gedacht ist.

Auf einem kleinen Areal zwischen der Kita und dem Park des Herzzentrums an der Lazarettstraße  sto­ße ich auf eine merkwürdige Installation: Die Figur eines Menschenaffen steht zwischen zwei Spiegeln, in denen sich seine Gestalt mehrfach spiegelt. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, wofür das Ensemble steht. Für einen Spiegeltest, der die Selbstwahrnehmung, also das Ich-Be­wusst­sein des Tieres beweisen soll? Dass Schim­pan­sen diesen Test bestehen, ist ja bekannt. Aber weshalb hier?

Weiter in Richtung Stiglmeierplatz nimmt die At­traktivität der Dachauer Straße weiter ab. Und das ist merk­würdig, denn man könnte vermuten, dass in einer Gegend, in der sich zahlreiche Hoch­schu­linstitute befinden, es auch so etwas wie ein stu­dentisches Leben mit den dazugehörigen Bars und Kneipen geben müsste. Ich ent­decke aber nur den von Hecken umfassten kleinen Biergarten des Café Bar Mellow.

Im Garten befinden sich Korbstühle und Tische unter einem großen Sonnendach: so wie in den Cafés an den Stränden der Welt. Man lehnt sich in die Korbstühle zurück und kann sich sich unter den Palmen ein wenig wie in der Karibik fühlen! Es sieht gemütlich aus und ein wenig südamerikanisches Flair ist nicht zu leugnen.


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Weiter unten an der Ecke zur Erzgießereistraße ein letztes denkmalgeschüztes Haus. Ich wundere mich fast, hier noch einen Anschein von intaktem his­to­ri­schen Stadtbild zu finden.

Damit ist es aber wieder gleich aus. Es folgt eine Reihe von Gebäuden mit schmucklosen, modernen Fassaden, in deren Erdgeschossen sich so heimelige Geschäfte wie eine Wäscherei, ein Pizzaservice und ein thai­län­di­scher Massagesalon befinden. Man spürt schon fast einen Hauch von Bahn­hofsgegend-Ambiente.

Die Ostseite des Dachauer Straße ist auf dieser Hö­he noch weniger attraktiv. Moderne Ver­wal­tungs- und Hoch­schul­bauten, die an Häss­lich­keit kaum zu überbieten sind, drängen mich zum Beenden dieses kleinen Spa­zier­gangs.

Man sollte niemals das Bedürfnis der Men­schen un­ter­schätzen, ihre Umwelt zu „verschönern“. So ent­decke ich im Ein­gangs­be­reich der Grundschule an der Dachauer Straße 98 auf einer kleinen Steinsäule eine „Ikarus“-Statue.

Und ganz in der Nähe davon eine weitere Über­ra­schung: Die Fassade der Stadtischen Sport­hal­le ist durch ein weiteres „Mural“ von Liqen geschmückt.

Liqen: Cucatraffic

Der 1980 in Vigo, einer Hafen- und Industriestadt Galiziens in Spanien, geborene Liqen ist derzeit einer der wichtigsten Streetart-Künstler der span­ischen Szene. Der Galizier zeigt nicht nur einen akri­bi­schen und persönlichen Zeichenstil, sondern ist auch in der Lage, auf kraftvolle und direkte Art die Botschaft seiner Arbeiten verständlich zu machen.



BUCHTIPPS:

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Wochenkalender mit 53 Graffiti- und anderen Streetart-Kunstwerken aus Städten rund um den Globus. Mit übersichtlichem Eintragekalendarium sowie Kreuzworträtseln und Sudokus auf jeder Rückseite

Mural Masters: A New Generation
The 21st century has seen a sea change in perceptions of public art. No longer limited to alleys and the shadows of overpasses, a new generation is painting towering, colorful pieces in the broad light of day. Mural Masters is a stunning showcase of work by more than ninety street painters, including legends like C215, Hendrik Beikirch, Herakut, Logan Hicks, INTI, Faith XLVII, Felipe Pantone, NYCHOS and Saner, as well as a who’s-who of up-and-coming mural artists.