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AM HART & HARTHOF
20. November 2020: Der Münchner Norden hat sicher nicht die Anziehungskraft der bekannteren Viertel wie beispielsweise Nymphenburg, Schwabing oder Solln. Im Norden verirren sich demnach kaum Touristen, denn für diese endet die Welt der Sehenswürdigkeiten beim Olympiapark und dem extravaganten Bau der BMW-Welt. Allenfalls wird ein Besuch der Allianz Arena geplant.
Es ist letztlich nur der Zufall, der zu Entdeckungen nördlich des Mittleren Ringes führt. Und man muss auch eine Ader für das Unspektakuläre mitbringen, eine Neugier für kleine Details, für Stadtentwicklung und soziale Milieus.
Ich fahre die Knorrstraße entlang in Richtung Norden. Zwischen Petuelring und Frankfurter Ring kann ich das Straßenbild nur als „beklemmende Gleichförmigkeit“ beschreiben. Die gesichtslose Wohnarchitektur der Nachkriegszeit lädt kaum zum Anhalten ein. Nördlich des Frankfurter Rings ändert sich dann das Bild ein wenig. Zunächst prägen Industrie- und Gewerbeansiedlungen beidseits der Straße das Bild – freilich sind es keine imposanten Industriebauten mit „vintage“ Charakter, solche also, die von Touristen bestaunt werden könnten. Auch hier ist Fantasielosigkeit das Hauptmerkmal.
Ich wäre vermutlich ohne irgendwo anzuhalten weitergefahren, hätte nicht ein imposanter Glas-und-Stahl-Bau an der linken Straßenseite meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mir fehlt leider das Architektur-Vokabular, um den beeindruckenden Bau, das Forschungs- und Innovationszentrum (FIZ) der Firma BMW, zu beschreiben. Es muss das Foto ausreichen! Jedenfalls ist die Gegend für mich schlagartig „interessant“ geworden.
BMW: Forschungs-/ Innovationszentrum
BUCHTIPP: | |
Die Geschichte der Bayerischen Motoren-Werke. | |
Die Frühphase der Bayerischen Motoren Werke ist aufs engste mit den politischen und wirtschaftlichen Ereignissen der Jahre des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik verflochten. Ursprünglich auf Flugmotoren spezialisiert, stieg BMW noch im Krieg zum Luftfahrt- und Rüstungskonzern auf. Nach Aufnahme der Motorrad- und Automobilproduktion entwickelte sich BMW bis 1929 zu einem diversifizierten und profitablen Unternehmen. | |
Man kommt in diesem Stadtviertel nicht darum herum, an ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte erinnert zu werden. Gegenüber des monumentalen BMW-Baus findet man ein etwa drei Meter hohes Denkmal, das an die sogenannte Judensiedlung Milbertshofen erinnert. Diese sollte als Sammelunterkunft für die jüdische Bevölkerung Münchens dienen, die seit 1939 systematisch aus ihren Wohnungen verdrängt wurde. Ab dem 25. März 1941 mussten jüdische Zwangsarbeiter das für sie bestimmte Lager in der Knorrstraße errichten. Mehr al 1300 Menschen wurden hier interniert und als Zwangsarbeiter in verschiedenen Münchner Betrieben eingesetzt. Das Lager diente hauptsächlich als Durchgangslager für die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager Piaski, Theresienstadt und Auschwitz.
Das Mahnmal für das Milbertshofener Judenlager
Das Mahnmal befindet sich am Anfang der Troppauer Straße. Troppau – ich weiß es, weil eine Tante von mir aus der Gegend stammte – ist eine Stadt in der Mährisch-Schlesischen Region im heutigen Tschechien. Dort heißt sie Opava. Als ich in der Siedlung, die sich westlich von der Knorrstraße bis hin zur Ingolstädter Straße ausdehnt, herumspaziere, stoße ich auf weitere Straßennamen, die auf einen ähnlichen geografischen Ursprung verweisen: Karlsbader Straße, Mährische Straße, Egerlandstraße, Marienbader Straße, Sudetendeutsche Straße.
Die Siedlung trägt den Namen Am Hart und hat eine etwas zweifelhafte Vergangenheit. Entstanden ist sie als „Reichskleinsiedlung am Hart“ in den Jahren 1933 bis 1935. Ursprünglich war sie für kinderreiche Arbeiterfamilien geplant worden. Die Siedlerstellen wurden durch Los an „rassisch einwandfreie“, erbgesunde und zuverlässige Bewerber verteilt. In den ersten drei Jahren wurden die Siedlerfamilien überprüft, ob sie sich dem „Wohl der Gemeinschaft“ anpassen wollten. Jeder Siedler musste sich verpflichten, sein Gartenland ordentlich zu bebauen und Kleinvieh zu halten.
Einfamilienhaus aus den 1930ern
Die Häuser waren nahezu identisch
Es entstanden knapp 340 nahezu identische Einfamilienhäuser für Arbeiter rund um das Gebiet an der Ingolstädter Straße. Man errichtete schlichte, karge Putzbauten mit Satteldach und rechteckigen Fenstern. Das Siedlungsgebiet wurde durch ein rechtwinkliges Straßennetz erschlossen, in das großzügige Grünbereiche eingefügt sind. Der parkartig gestaltete und wie ein Anger wirkende Aussiger Platz dient als Erholungsfläche. Aussig (Tschechisch „Ústí nad Labem“) ist – wie könnte es anders sein? – eine Stadt in Nordböhmen.
Der Aussiger Platz
Durch die Benennung von Straßen zeigte sich der Expansionsdrang des NS-Regimes, welches durch territorialen Anschluss die deutsche Bevölkerung „Heim ins Reich“ holen wollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Zusatz „Reichskleinsiedlung“ gestrichen. Die Struktur eines Wohnviertels für Arbeiter blieb erhalten und die Spuren sind auch heute noch zu erkennen, wenn auch ein großer Teil der Häuser erweitert und modernisiert wurde und viele auch neu errichtet wurden. Noch heute leben und wohnen hier Nachfahren der ersten Siedler-Generation, aber auch viele neue Nachbarn sind im Lauf der Zeit hinzugekommen. Nach dem Krieg zogen auch zahlreiche Sudetendeutsche und Schlesier in die Siedlung. Entsprechend wurden auch Straßennamen umgewidmet, als Erinnerung an die Heimat der Neuankömmlinge. So kamen in den 1950er-Jahren die Prager Straße, die Gablonzer Straße und die Wenzelstraße hinzu.
BUCHTIPP: | |
München: Die Stadtviertel in Geschichte und Gegenwart | |
Das Buch erzählt auf 320 Seiten die Geschichten von Menschen, Plätzen und Ereignissen aus den Münchner Stadtvierteln. Dazu ganz persönliche Tipps der SZ-Redakteure und Wissenswertes aus Historie und Gegenwart der Münchner Stadtteile. | |
Geschichtsauffrischung: Sudetenland war die Bezeichnung für ein Gebiet der Tschechoslowakei entlang der Grenzen zu Deutschland und Österreich, in dem vor dem Zweiten Weltkrieg überwiegend Deutsche nach Sprache und Kultur lebten. Mit dem Münchner Abkommen von 1938 kam das Gebiet an das Deutsche Reich, nach dem Zweiten Weltkrieg ging es zurück an die Tschechoslowakei und die deutschen Bewohner (die „Sudetendeutschen“) wurden von dort vertrieben.
2. Haus von links: gleich geblieben
Als ich eine Weile ziellos in der Siedlung umherziehe, stoße ich auf ein Haus, das meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. In seinem Garten finden sich zahlreiche interessante Kunstobjekte wie beispielsweise eine Reihe von Glühbirnen, die mit Wäscheklammern an eine Leine befestigt wurden, eine herabhängende Schnur mit von Hand aufgefädelten Muscheln, eine kunstvolle Blumentopfsäule und zahlreiche Plastiken.
Vor allem sind es eine Reihe von kleinen Charakterköpfen aus Ton, die mich wegen ihrer Ausdrucksstärke faszinieren. Aus diesem Grund nehme ich mir hier die Freiheit, diese Fotos zu zeigen und auf die Webseite der Künstlerin zu verweisen.
Kunstobjekte von Renata Messing
Als ich zurück zur Knorrstraße gehe, ist das nächste Kunsterlebnis fällig. Direkt vor dem Schulgebäude des Gymnasiums München-Nord ist die interessante Plastik Feuer & Flamme zu sehen. Die Skulptur, eine stilisierte Olympische Flamme, deren Oberfläche aus poliertem Edelstahl besteht, wurde von Bruno Wank für dieses Gymnasium geschaffen, dem die Förderung des Leistungsports ein zentrales Anliegen ist. Ab der achten Klasse wird hier rund ein Viertel der Schüler sportlich gefördert. Sie trainieren für nationale und internationale Wettkämpfe.
Feuer & Flamme (Bruno Wank)
Was für ein Gegensatz! Die Westseite der Knorrstraße ist von Industriebauten und moderner Architektur geprägt. Die nordöstliche Seite hat hingegen ein völlig entgegengesetztes Erscheinungsbild. Fast anachronistisch kleinteilig, bescheiden, mit einem Anflug von urmünchnerischem Flair. Und wieder: Sogar an der kleinen Kneipe „Galerie Stüberl“ mit ihrem Vorstadtcharme erkennt man das identische Baumuster der Vorkriegszeit.
Das Galerie Stüberl
Und etwas weiter, dort, wo die Knorrstraße in den Lieberweg übergeht, befindet sich das „Ziegelhaus“, ein Restaurant mit Wintergarten und einem urgemütlich aussehenden kleinen Biergarten – zumindest in der Fantasie. Denn die durch den kalten Herbsttag bedingte Leere lässt das Ganze ziemlich trostlos erscheinen.
Das Ziegelhaus
Nach dem Siedlungsbau von „Am Hart“ wurde nördlich der Rathenaustraße ab 1939 mit dem Bau der „Volkswohnanlage Am Harthof“ begonnen. Der NS-Staat war an der raschen Fertigstellung interessiert, weil hier vor allem Industriearbeiter angesiedelt werden sollten. Ganz im Gegensatz zu den kleinen Einfamilienhäusern der Siedlung Am Hart errichtete man in der Siedlung Harthof große Wohnblöcke in Zeilenbauweise.
An der Rathenaustraße
Die meisten Gebäude wurden in den Jahren 1939 bis 1945 als Einfachstwohnungen errichtet. Nach dem Krieg entstanden dann weitere ähnliche Zeilenbauten. Um die Einförmigkeit zu überwinden, wurden die Bauten zwar aufgelockert, lose gruppiert und versetzt, dennoch ist ihnen das Erscheinungsbild von bescheidenen Sozialwohnungen geblieben. Viele dieser in den 1940er- und 1950er-Jahren errichteten Häuserblöcke mussten dringend erneuert werden – in einigen der langen Wohnriegeln hatten die Wohnungen nur Toiletten, keine Bäder, tiefe Decken, und im Winter konnte nur in kleinen Öfen geheizt werden. Einige marode Gebäude wurden bereits abgerissen.
Massensiedlung „vintage“
Die Gebäude westlich des Lieberwegs sehen so aus, als wäre der Zustand der 1940er- und 1950er-Jahre „eingefroren“ worden. Zwei- bis dreigeschossige Bauten, steil geneigte Satteldächer, im Wesentlichen balkonlos. Ob die Wohnungen den heutigen Wohnstandards entsprechen oder nicht, ist von außen nicht zu beurteilen. An eine erfolgte Sanierung lassen lediglich die pastellfarbenen Fassaden denken.
Patina
Warum fasziniert mich diese in die Jahre gekommene, etwas trostlos wirkende Siedlung so sehr? Sind es die Spuren der Vergangenheit – Neues ist geschichtslos – oder ist es eine unterschwellige Sympathie für Menschen, die sich exklusivere Gegenden nicht leisten können? Hat es etwas mit verschwommenen Erinnerungen an Orte meiner Kindheit zu tun? Ist es die Ästhetik der „Patina“ von abbröckelndem Putz? Oder sind es vielleicht die großzügigen Freiflächen, die zahlreichen „anheimelnden“ Mietergärten? Vielleicht ist es aber auch nur das weiche Licht des späten Nachmittags, das die Farben der Fassaden aufleuchten lässt, welches mich in eine Art Rausch des Sehens versetzt. Immerhin ist hier im Gegensatz zu den Massensiedlungen a la „Neu-Perlach“ das menschliche Maß noch vorhanden.
Es ist interessant zu wissen, dass es im Harthof im Vergleich zum stadtweiten Durchschnitt deutlich mehr Familien mit Kindern gibt – und deutlich mehr Kinder ohne Familie: Alleinerziehende Mütter und Väter machen fast ein Viertel aller Haushalte aus. Etwa zweimal so viele Familien werden vom Sozialamt betreut als im Münchner Durchschnitt.
An diesem kalten Novembertag sieht man kaum jemanden auf der Straße, nur vereinzelt Menschen, denen man den Migrationshintergrund sofort ansieht. Ironie der Geschichte: Wie war das noch mit den „arischen“ Vorstellungen der Nationalsozialisten?
Kleines Glück
Die rasche Bebauung des Wohngebiets Harthof in den 1950er-Jahren führte 1956 zur Errichtung eines Kirchenbaus für die zugezogenen Katholiken, die Sankt-Gertrud-Kirche an der Weyprechtstraße.
Die Sankt-Gertrud-Kirche
Als in den 1950er-Jahren der Münchner Norden besiedelt wurde, war er vor allem ein landwirtschaftlich geprägtes Gebiet. Dann zogen Flüchtlinge und Vertriebene hierher, darunter viele evangelische Christen. Es bildete sich eine Gemeinde und es entstand der Wunsch nach einer eigenen Kirche. Der Architekt Franz Gürtner entwarf die Pläne für die Versöhnungskirche. 1957 wurde sie eingeweiht.
Die Versöhnungskirche in der Hugo-Wolf-Straße wurde nach dem Motto der evangelischen Kirche im Jahr der Grundsteinlegung 1956 benannt: „Lasset euch versöhnen mit Gott“. Dieser ist über dem Hauptportal angebracht.
Als müsste ich noch davon überzeugt werden, dass es sich lohnt, die Gegend weiter zu erforschen, bricht die Sonne plötzlich zwischen den Wolken hervor und taucht mit unerwarteter Wucht Straßen und Häuser in kraftvolle Farbtöne ein. Es entsteht eine Stimmung, die mich elektrisiert! Herbstliches Spätnachmittagslicht, das Maler und Fotografen entzückt!
Zauberhaftes Licht
Viele der Wohnungen aus den 1940er- und 1950er-Jahren wurden inzwischen saniert. Andere mussten abgerissen werden und wurden unter Berücksichtigung der historischen Siedlung neu errichtet. Durch eine moderate Erhöhung der Geschosszahl erzielte man eine „behutsame Nachverdichtung“ (Lese: weniger Grünfläche pro Wohnung)! Besonders im Gebiet östlich des Lieberwegs hat eine Neubebauung stattgefunden.
Um sich ein Bild der baulichen Veränderungen zu machen, nützt ein Vergleich zwischen der Wohnanlage an der Rathenauer Straße, wie sie heute zu sehen ist, und der alten, inzwischen abgerissenen Siedlung an der selben Stelle, (zu sehen mittels Google-Street View). Google konnte seine Bilder glücklicherweise nicht aktualisieren.
Neu errichtetes Gebäude an der Dientzenhoferstraße
Projektbeschreibung seitens der GWG München (Städtische Wohnungsgesellschaft München): „Zusammen mit dem Berliner Farbkünstler Erich Wiesner wurde eine Farbpalette für das gesamte Entwicklungsgebiet Harthof erarbeitet, welche sich an der ursprünglichen Farbigkeit der Siedlung orientiert, ihr jedoch Intensität und eine neue Frische verleiht. Das Gelb-orange, wie auch das frische Grün, ziehen sich in das Innere der Gebäude, im Bereich der Treppenhäuser, fort und bilden eine harmonische Verbindung zwischen Innen und Außen.“
Farbigkeit
BUCHTIPPS: | |
München Ortstermin: Die Stadt nach dem Krieg und heute | |
München nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis in die 1960er Jahre geprägt von den Zerstörungen der Luftkriege und dem Wiederaufbau. Den historischen Bildern der 1950er und 1960er Jahre sind entgegengestellt Bilder von heute. | |
Grün in München: Plätze, Parks und Paradiese | |
Münchens Natur hat viel mehr zu bieten als den Englischen Garten und den Nymphenburger Park. Die Autoren porträtieren in diesem Buch über 100 Grünanlagen und Naturschutzgebiete innerhalb der Stadtgrenzen. Neben der Darstellung von Gärten, Parks, Spielplätzen, Friedhöfen und der schönsten Isarabschnitte wird Wissenswertes zur Geschichte, zur Landschaftsarchitektur und zur Ökologie vermittelt. | |