SPAZIERGANG IM OLYMPIADORF
14. APRIL 2021
Begriffserklärung: Der Olympiapark war der Veranstaltungsort der XX. Olympischen Spiele in München im Jahr 1972. Er besteht heute aus:
- dem Olympiagelände (Areal der Sportstätten),
- dem südlich des Olympiageländes liegenden Park (mit Olympiaberg und -see) und
- dem Olympischen Dorf (Olympiadorf). Dieser diente während der Olympiade der Unterkunft der Athleten. Es war unterteilt in olympisches Männerdorf und olympisches Frauendorf.
Während das ehemalige Olympische Dorf der Männer im Norden heute als Wohnviertel genutzt wird, ist das frühere Olympische Dorf der Frauen im Süden eine Studentenwohnanlage. Die von Werner Wirsing 1969–1971 realisierte Wohnanlage war eine konsequente Umsetzung der Vorstellungen der Studenten in den 1960er-Jahren: Sie lehnten „Wohngruppen“ als erzwungene Gemeinschaft ab und forderten mehr Individualität. So wurden 800 in langen Reihen angeordnete Minihäuser gebaut (inzwischen sind es 1052), ein jedes mit einer etwa 20 Quadratmeter großen zweigeschossigen Maisonettewohnung, die über Kochzeile, Bad und Balkon verfügt. Die Fassaden der Bungalows durften die Bewohner nach eigenem Geschmack selbst gestalten.
Das Olympische Dorf mit dem Studentenviertel
Kommt man mit der U-Bahn U3 (Station Olympiazentrum) an, ist es naheliegend, zunächst diese Ansammlung kleiner Bungalows zu besichtigen, die ein ganz besonderes Flair ausstrahlen. Der Kontrast zu dem nördlich davon gelegenen Wohnviertel könnte kaum größer sein. Das düstere spätwinterliche Wetter verstärkt auch noch den – freundlich ausgedrückt – unvorteilhaften Charakter der Betonburgen im Hintergrund.
Die farbenfrohe Bemalung der Haustüren und -Fassaden des Studentendorfes war von Anfang an charakterprägend. Obwohl bei der wegen der Leichtathletik-Europameisterschaften des Jahres 2002 erfolgten Sanierung der Bungalows die Bemalung teilweise verloren ging und der spätere Abriss und Wiederaufbau der maroden Gebäude das Phänomen verstärkte, sieht man dies dem Ensemble nicht mehr an, denn es wurde denkmalgerecht wiedergebaut, und es war nur eine Frage der Zeit, bis alles wieder so kunterbunt aussah wie im alten Dorf.
Nach dem Wiederaufbau kam es zu einem großen Bemalungswettbewerb. Alle, die im Studentenviertel „Olympisches Dorf“ wohnten, sollten Ideen für die freien Flächen entwickeln. „Mit dieser Aktion sollte an die Tradition angeknüpft werden, gemeinsam die Bungalows zu bemalen“. Das Material wurde vom Studentenwerk zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus erhielten alle Studenten, deren Entwürfe umgesetzt wurden, ein Preisgeld von 500 Euro.
BUCHTIPP: | |
Habitat: Das Olympische Dorf in München | |
Für die Olympischen Spiele 1972 in München geplant und gebaut, sollte das Olympische Dorf mit seinen Bauten und Anlagen über die Olympiade hinaus intensiv nutzbar sein - nämlich als Wohnanlage, in der sich zeitgemäße Formen des Wohnungs- und Städtebaus darstellen. Das Olympiadorf ist eine Realität gewordene Utopie: ein Wohngebiet im Grünen, nicht weit vom Stadtkern entfernt, mit allen Einrichtungen für rund 10.000 Bewohner. | |
Man kommt bei einem Besuch dieses Ortes nicht drum herum, an das Olympia-Attentat des Jahres 1972 zu denken. Während der XX. Olympischen Sommerspiele verübte ein palästinensisches Terrorkommando der Organisation Schwarzer September einen Anschlag auf die israelische Mannschaft in deren Unterkunft im Olympischen Dorf. Bei diesem Überfall am 5. September 1972 töteten die Attentäter zwei israelische Athleten und brachten neun weitere Sportler in ihre Gewalt. Ein von den deutschen Behörden unternommener Befreiungsversuch auf dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck scheiterte. Alle israelischen Sportler und ein deutscher Polizist wurden von den Terroristen ermordet. Auch fünf der acht Attentäter kamen ums Leben.
Diese düsteren Gedanken verschwinden aber rasch beim Spazieren in dieser kleinen Oase der Gemütlichkeit und der Pop-Art. Kinder in bunter Kleidung und niedliche Lämmer bevölkern eine grüne Frühlingswiese, Motive wie Harry Potters Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei, Disneys Tarzan, florale Motive und Fantasielandschaften ziehen unentwegt meine Blicke auf sich.
Der Kontrast zwischen dieser kleinteiligen, „menschengerechten“ Wohnwelt und der Siedlung des früheren olympischen Männerdorfs könnte nicht größer sein. Letztere überfällt mich mit der Wucht der unzähligen Stockwerke ihrer Betonburgen. In meiner Fantasie entstehen danteske Bilder von in Massen übereinandergestapelten Menschen.
In den 1960er-Jahren hatte sich bei Architekten und Stadtplanern ein Wechsel in der Wahrnehmung des Wohnungsbaus vollzogen. Das städtebauliche Leitbild, das sich in diesen Jahren etablierte, führte weg von den gegliederten und aufgelockerten „langweiligen“ viergeschossigen Zeilenbauten hin zu einer neuen urbanen Dichte und beispiellosen Massierung von Menschen in Gebäudestrukturen mit hoher Geschosszahl.
Diese Ansichten, zusätzlichen ergänzt durch den Baustil „Brutalismus“, prägten für mehr als zwei Jahrzehnte den Städtebau. Der Begriff basiert nicht auf dem Wort „brutal“, wie man denken könnte, sondern kommt vom französischen „béton brut“ (roher Beton). Der Brutalismus stand für eine Architektur, die den Anspruch hatte, bei Material und Konstruktion authentisch zu sein. Er war geprägt von der Verwendung von Sichtbeton (nicht verputztem Beton), von simplen geometrischen Formen und meist sehr grober Ausarbeitung und Gliederung der Gebäude. Das Zusammentreffen der beiden Architektur-Leitlinien führte letztlich zu einer Verunstaltung der Städte durch graue Wohnklötze. Erst Ende der 1980er-Jahre geriet der Baustil in Verruf, Architekten und Stadtplaner kehrten zurück zur bürgerlichen Stadt.
Unabhängig vom architektonischen Stil war das Olympische Dorf ein städtebauliches Experiment. Es trägt den Namen „Dorf“ nicht unbeabsichtigt. Denn es sollte als „Stadt in der Stadt“ funktionieren mit Schulen, Kindergärten, Spielplätzen, Geschäften und Kirchen. Zudem sollte das Dorf autofrei sein und mit einer eigenen U-Bahn Station an die Stadt angebunden sein.
Kaum zu glauben: Mittlerweile gilt das inzwischen unter Denkmalschutz stehende Olympiadorf mit 3800 Wohneinheiten und 6000 Bewohner als eines der beliebtesten Wohngebiete in München. Die Bewohner schwärmen lieber vom vielen Grün, der Verbannung der Autos in den Untergrund und den angenehmen Wohnverhältnissen.
Auf den ersten (und zweiten) Blick fühle ich mich von diesem Viertel ziemlich abgestoßen. Wohnen in einer solchen Betonwüste? Bis zu 19 Etagen hohe Häuser? Wie kann man so etwas mögen? Mein Spaziergang soll mir dabei helfen, den Widerspruch zu verstehen zwischen dem Wohnen in einer Massensiedlung und dem gleichzeitigen Erleben derselben als „Dorf“ mit einem ganz besonderen Eigenleben und einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl.
Das Olympische Dorf besteht aus drei Hauptstraßenzügen (von Norden: Straßbergerstraße , Nadistraße und Connollystraße), die über den Helene-Mayer-Ring zusammengeführt werden. Ein auf Stelzen verlaufenden farbiges, an römische Aquädukte erinnerndes Röhrensystem, die sogenannten „Media Lines“ dienen der Orientierung: orange für die Straßbergerstraße, grün für die Nadistraße, blau für die Connollystraße und gelb für den Helene-Mayer-Ring. Diese Röhren des Architekten und Objektkünstlers Hans Hollein (1934-2014) sind nicht nur Leitsystem durchs Dorf angelegt worden, sondern auch als Kunstobjekte.
Bei dem Spaziergang fällt immer wieder mein Blick auf fantasievolle Brunnen oder interessante Kunstwerke. Das bemerkenswerteste Kunstobjekt ist gleich am Anfang der Nadistraße zu sehen, ein aus verdreht geschichteten Aluminiumplatten zusammengesetzte Werk, die ursprünglich motorbewegte Silbersäule des Künstlers Roland Martin.
Silbersäule (Roland Martin/1972)
Brunnen der Architektin Barbara Galke
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Es gibt im Olympiadorf (auch liebevoll von den Einwohnern „Olydorf“ genannt) schon so einige skurrile Dinge. Jede Menge Accessoires, Installationen, ungewöhnliche Spielplätze, farbige Rampen und Wendeltreppen.
Keine Autos fahren oder parken auf den Straßen des „Dorfes“. Keine Verschandelung durch die „mobile Stadtmöblierung“ also. Geparkt wird unterhalb der Wohnkomplexe. Oben ist kaum ein Motorengeräusch zu hören. Die geräuscharme, kinderfreundliche Stadt: ein überzeugendes Konzept! Der Satz „Kinder können vor der Wohnungstür spielen“ kann allerdings nicht ganz stimmen. Rechnet man die Bewohnerzahl der riesigen Wohnsilos auf die möglichen Spielflächen um, so dürfte es zu einer gewissen Enge kommen. Mütter die vom Fenster aus ihre Kinder beim Spielen im Auge halten, das dürfte wohl utopisch sein!
Andrerseits sind die Wohnblöcke und -straßen in viel Grün eingebettet. Es gibt mehrere Spielplätze für alle Altersgruppen, Skulpturen, die man auch bespielen darf, Rodelhügel, ein Basketballplatz, eine Skaterbahn und sogar einen kleinen See. Jeder kann im Olympischen Dorf auch ein ruhiges Plätzchen finden und sich zurückziehen. Für das bereits erwähnte Gemeinschaftsgefühl werden Nachbarschaftsfeste und Flohmärkte organisiert.
Keine Frage: Das Wohnkonzept dieser „Stadt in der Stadt“ ist aufgegangen. Gäbe es nur nicht diese überdimensionierten Wohnkomplexe!
Je nach Perspektive sehen das Dorf und seine Gebäude anders aus. Im sogenannten Oberdorf sind die Wohnanlagen stufenförmig mit Terrassen gebaut. Und das „Olydorf“ besteht nicht nur aus Hochhäusern, es gibt auch dreigeschossige Wohnbauten, Reihen- und Atriumhäuser. An manchen Ecken haben die kleiner dimensionierten Wohnkomplexe einen fast intimen Charakter.
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Auf Du und Du mit den Nachbarn
Wenn man mit dem Auto ins Dorf kommt, wird es sogar etwas unheimlich. Da durch das Viertel selbst kein Verkehr fließt, wird man unterirdisch in eine riesige Tiefgarage geleitet, wo man sein Auto abstellen muss. Das kann einem in den dunklen Tagesstunden ganz schön Angst einflößen.
Ich bin zurück am Helene-Mayer-Ring, quasi dem „Dorfplatz“ des Viertels. Es ist die Ladenstraße des Olympiadorfes mit Postfiliale, Bäcker, Friseur, Sparkasse, verschiedenen Supermärkten und ein paar Restaurants. Die Straße ist nach der deutsch-amerikanischen Fechterin und Olympiasiegerin Helene Mayer benannt.
Für Interessierte: Die Nadistraße ist nach dem italienischen Sportler Nedo Nadi (1894–1940) benannt, dem sechsmaligen Gewinner der Goldmedaille im Florett- und Säbelfechten bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm und 1920 in Antwerpen. Die Straßbergerstraße wurde nach dem deutschen Gewichtheber Josef Straßberger (1894–1950) benannt. James Connolly war der erste Olympiasieger der Neuzeit (1896).
Von hier aus ist es nur eine kurze Strecke zu Fuß bis zur U-Bahn-Station: Sieben Minuten Fahrzeit zur Münchner Freiheit, zwölf Minuten bis zum Marienplatz.
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