ALT-RAMERSDORF
8. MAI 2021
Jeder Autofahrer, der über die Autobahn A8 (Salzburg-München) in München eintrifft, sieht den markanten Turm der Wallfahrtskirche St. Maria Ramersdorf bereits aus der Ferne, und wenn er an der Kreuzung Rosenheimer Straße und Mittlerer Ring die Autobahn verlässt, befindet er sich in Ramersdorf, einen der beiden Stadtteile des Stadtbezirks 16 (Ramersdorf-Perlach).
Die Wallfahrtskirche St. Maria Ramersdorf
In Ramersdorf gewesen zu sein heißt nicht, Ramersdorf zu kennen! So dürften die allerwenigsten Münchner den Innenraum des zu Beginn des 15. Jahrhunderts erbauten Gotteshauses gesehen haben. Das mag daran liegen, dass das Viertel in der öffentlichen Wahrnehmung zu schlecht abschneidet. Vielleicht auch weil die Kirche Wegen der wertvollen historischen Ausstattung außerhalb der Gottesdienste stets verschlossen war. Nach der 2018 abgeschlossenen Renovierung hat sich Pfarrer Harald Wechselberger jedenfalls für tägliche Öffnungszeiten entschlossen.
Der barocke Hochaltar von 1662
Herausfindung des Kreuzes Christi 326
Für Wallfahrer möchte der Pfarrer aus seiner Kirche auch ein Wallfahrtszentrum schaffen. Es soll ein Pfarr- und Pilgerheim gebaut werden, wo Pilger schlafen, Exerzitien ausüben und sich theologische Vorträge anhören können. Und es soll auch ein Devotionalien-Laden her, in dem Gegenstände angeboten werden, die mit der Wallfahrtskirche in Zusammenhang stehen.
Christus-Statue vor dem linken Seitenaltar
Im Gegensatz zur Innenstadt oder beispielsweise Nymphenburg ist Ramersdorf in der Tat nicht reich an Sehenswürdigkeiten, aber wenn man im Stadtteil ist, kann man durchaus ein paar historisch-architektonisch interessante Ecken finden. Freilich handelt es sich fast ausschließlich um Bauten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie könnte es auch anders sein?: Noch 1918 hatte Ramersdorf nur 1.500 Einwohner und ein Drittel des Stadtviertels bestand aus Wiesen und Feldern.
Die Kirche und die Reste des Dorfkerns stehen heute im Schatten zweier großen Straßenverbindungen. Der Mittlere Ring und die Rosenheimer Straße haben aus den Wohngebieten „Inseln“ gemacht. Wo früher die Schafe grasten, rollt nun Tag für Tag eine Blechlawine vorbei.
Am Innsbrucker Ring
In Ruhe durch Ramersdorf zu schlendern ist nicht leicht, denn das Viertel ist zu zerstückelt und zerschnitten. Abseits des Orstkerns gibt es kaum „Sehenswürdigkeiten“. Fährt man stadteinwärts an der Rosenheimer Straße entlang (der Stadtteil Ramersdorf endet an der Bahnunterführung) sieht man auf der linken Straßenseite den Baukomplex der Bayerischen Bereitschaftspolizei, auf der rechten die Wohnblöcke der zwischen 1928 und 1930 erbauten Großsiedlung Neu-Ramersdorf.
Die nach Plänen der Architekten Oscar Delisle und Richard Berndl errichtete Siedlung weist stattliche Dimensionen auf. Die an der Straßenfront sichtbaren Zeilenbauten sind an Nüchternheit kaum zu überbieten. Im Vergleich zur Borstei, die den Charakter einer „kultivierten Siedlung für den gehobenen Mittelstand“ hat und traditionelle Formen, Satteldächern und Wohntürmchen aufweist, ist die Architektur der Siedlung eher zurückhaltenden mit Details und baulichem Schmuck, offensichtlich aus gewollter Zuneigung zur „Moderne“.
Auf meinem Spaziergang will ich heute einige dieser Ramersdorfer „Inseln“, entdecken.
Unmittelbar neben der Kirche befindet sich das katholische Pfarrhaus, ein zweigeschossiger Walmdachbau des Architekten Max Ostenrieder, mit Zwerchgiebel, Erker, Dachgauben und Madonnenmosaik. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um das einzige sehenswerte Gebäude in der Ramersdorfer Straße handelt, und dass diese nach 80 Meter in den Mittleren Ring mündet, beeindruckt es mich wenig.
Katholisches Pfarrhaus 1906 (Max Ostenrieder)
Wesentlich inspirierender ist hingegen das Gasthaus Alter Wirt mit seinem kleinen Biergarten, das seit 1690 besteht, als der perlacher Hofwirt Franz Daegn von der Hofkammer die Genehmigung erhielt, an dieser Stelle ein Bierzäpflerei zu errichten. Das Gebäude stand unter Denkmalschutz, bis das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege entschied, es aufgrund häufiger Renovierungen vom Denkmalschutz zu befreien. Dennoch strahlt der Alte Wirt nach wie vor eine gemütliche, urmünchnerische Atmosphäre aus. Nur die Nähe zur verkehrsreichen Rosenheimerstraße mindert diesen Genuss.
Der Alte Wirt
Auf der anderen Seite der Straße befindet sich das ZAR, ein Restaurant-Bar mit einem kleinen Biergarten. Im Flachbau hängen grüne Lampions von der Decke, zwei Baumstämme ragen durchs Dach. Eine große Giraffenfigur als „Hüter“ des kleinen Biergartens und ein auf dem Dach sitzender Gorilla geben dem Restaurant einen Touch von Exotik. Ein Lokal für Jugendliche, das ein bisschen wie eine Almstube wirkt.
Der Wächter des ZAR-Biergartens
Ziellos die Rosenheimer Straße entlang in Richtung Innenstadt gehend gerate ich an der Wilramstraße an eine herrliche Mietshauswohnanlage. Was für ein Blickfang! Die Wohnanlage wurde 1925 bis 1927 von Eduard Thon erbaut und steht heute unter Denkmalschutz. Der Bayerische Denkmalatlas beschreibt den Wohnkomplex als „viergeschossigen Satteldachvbau, reich gegliedert mit Zwerchgiebeln, Dachgauben und Risaliten (hervorspringenden Gebäudeteilen), Eckausbildung zur Wilramstraße mit polygonalen Eckrisaliten, reduziert historisierend“.
Ich wünschte, es gäbe weit mehr Bauten, bei denen auch nur einige solcher Architekturelemente aufzufinden wären. Stattdessen nur Gebäude, die man mit einem einzigen Wort beschreiben kann: Zweckbau!
„Architektur“ versus Fantasielosigkeit
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Dann ändert sich zu meiner Überraschung das Stadtbild. Die kleine Grünanlage Wilramstraße ist der Anfang. Ein kurzer Spaziergang durch diesen Park, dann komme ich in einem idyllischen Gartenstadtviertel an, einem in sich geschlossenen Ensemble mit zahlreichen Grünflächen. Der Straßenverkehr scheint weit weg zu sein. Man könnte sich in einem ruhigen Stadtrandviertel wähnen, wenn nicht sogar auf dem Land. Die Sichtachse der Herrenchiemseestraße lässt den Blick frei auf den Kirchenturm. Eine bürgerliche Dorfidylle?
Diese Mustersiedlung Ramersdorf sollte kurz nach der Machtübernahme des NS-Regimes im Rahmen der „Deutschen Siedlungsausstellung“ 1934 als beispielhafte Verkörperung des nationalsozialistischen Siedlungsgedankens präsentiert werden. In kürzester Zeit wurden unter der Leitung des Architekten Guido Harbers 192 Einfamilienhäuser mit 34 unterschiedlichen Bautypen errichtet. Die Siedlung wurde damals nach „den neuesten Gesichtspunkten der Wohnkultur und der Verkehrspolitik“ gebaut – für den Mittelstand.
Die evangelische Gustav-Adolf-Kirche in der Mustersiedlung
Das ursprüngliche ensemble ist weitestgehend erhalten geblieben und steht als Ganzes unter Denkmalschutz. Hausbesitzer der Mustersiedlung können nur unter Berücksichtigung der Gestaltungs-Festlegungen Wohnflächen erweitern oder die Häuser verändern. Dafür genießen sie eine Wohn- und Lebensqualität, wie sie im Münchner Stadtgebiet (fast) nirgends mehr zu finden ist.
Auch heute noch überprüft das Landesamt für Denkmalschutz regelmäßig die bestehenden Ensembles auf ihre vorhandene Substanz und auf Veränderungen, die der Satzung oder dem Charakter des ensembles nicht entsprechen.
Bei der letzten Überprüfung in 2016 wurde der ensembleschutz der Mustersiedlung vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege betätigt und sogar in seiner Bedeutung hervorgehoben.
Mein Besuch in Ramersdorf wurde hauptsächlich von einer Reihe von Zeitungsartikeln inspiriert, die sich mit einem von Abriss und Neubau gefährdeten Wohngebiet befassten, der Wohnanlagen am Loehleplatz.
Rettet den Loehle-Platz
Bei dem Ensemble handelt es sich um eine malerische Gruppe von Wohnbauten, die zwischen 1907 bis 1927, unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg, für den Verein für Verbesserung der Wohnungsverhältnisse in München (Heute: Gemeinnütziger Wohnungsverein München 1899 e.V.) unter der Führung von Johann Mund und unter Beteiligung von Richard Fuchs, Hans Wagner, Liebergesell und Lehmann errichtet wurde.
Am Loehleplatz
Die Gebäude sind, besonders jene, die aus dem Anfang der Bautätigkeit noch vor dem Ersten Weltkrieg stammen, selbst bei bescheidenen Ausmaßen reich gegliedert und dabei sowohl symmetrisch wie asym­metrisch zusammengeordnet. Damit wird die um einen Hof geschlossene Blockbebauung ebenso aufgelockert wie die Folgen von Reihenhäusern – ein Musterbeispiel malerischen Städtebaus im gesamten wie im Einzelnen, ausgerichtet auf die Ramersdorfer Kirche als Blickziel.
Wollani-/ Ecke Koelblstraße
Die Wohnanlagen am Loehleplatz standen bereits unter Denkmalschutz, zum ensemble zählten die Experten aber auch die Häuser östlich davon bis hin zur Führichstraße.
Wollanistraße
Das Entsetzen war groß im Viertel, als durchsickerte, was für Abriss- und Neubaupläne der „Gemeinnützige“ Wohnungsverein München 1899 für das Gebiet zwischen Loehleplatz und Führichstraße verwirklichen wollte. Der Verein plante den Neubau einer Wohnanlage auf seinen Grundstücken sowohl an der Führich- als auch an der Weiskopfstraße. Das hätte für die Bewohner den Verlust bezahlbarer Wohnungen bedeutet und für München der Verlust eines städtebaulichen Kleinods.
Was für eine Entdeckung! Der Loehleplatz und die Siedlung östlich davon überraschen mich mit ihrem an dieser Stelle kaum erwarteten dörflich-idyllischen Charme: Die niedlichen Einfamilien-Reihenhäuser der Weiskopfstraße mit ihren liebevoll gepflegten Vorgärten haben es mir besonders angetan.
Weiskopfstraße
Die Bewohner, Nachbarn und Unterstützer zeigten aber sofort große Entschlossenheit in ihrem Widerstand gegen das Vorhaben. Sie schlossen sich innerhalb kurzer Zeit in der „Aktionsgemeinschaft Unser ensemble“ zusammen.
Weiskopfstrasse
Als ich vor einem Haus in der Weiskopfstraße stehe und gerade die Kamera auf Augenhöhe bringe, spricht mich ein junger Mann an und bekundet, es sei sein Haus, das ich gerade fotografiere. Wir kommen ins Gespräch, und so erfahre ich, dass die sich Situation inzwischen entschärft hatte und dass die Bewohner einen Sieg errungen hatten.
Maria-Lehner-Straße
Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege hatte das ensemble Wohnanlagen am Loehleplatz geprüft und festgestellt, dass auch die 1936-38 erbauten Reihenhäuser für die Platz- und Straßenbilder der Wohnanlagen von mitprägender Wirkung seien. Die Behörde hatte daraufhin empfohlen, dass „das ensemble dementsprechend bis zur Führichstraße hin erweitert werden sollte“. Der Landesdenkmalrat schloss sich der Auffassung des Landesamtes an und befürwortete die Erweiterung.
So wurde dieses für München bedeutsame ensemble als Beispiel für das Wohnen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts schließlich um etwa ein Drittel erweitert.
Es ist bereits später Nachmittag, als ich zu meinem Auto zurückkehre. Auf dem Weg dorthin passiere ich gedanklich das Erlebte Revue. Es sind sehr widersprüchliche Gefühle, die mir im Kopf herumgehen. Die ganze Problematik dieses zerrissenen Stadtviertels lässt sich an jedem Schritt erfahren. Kaum habe ich mich von der „Idylle“ ein wenig entfernt, schon überfällt mich der abstoßende Antlitz der städtbaulichen Moderne.
Funktional? Nein, hässlich!
Auf der anderen Seite der Straße steht das in den Jahren 1915–1918 nach Entwürfen des Münchner Stadtbaurats Robert Rehlen im Stil des Historismus errichtete, denkmalgeschütze Gebäude der Grundschule an der Führichstraße.
Grundschule an der Führichstraße
Ich glaube, jeder weitere Kommentar erübrigt sich.
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