IM WALDFRIEDHOF
18. NOVEMBER 2020: Ein herrlicher Herbsttag! Ideal für einen Spaziergang in dem als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesenen Waldfriedhof. Er ist in Deutschland der Erste in einen bestehenden Nutzwald eingebettete Friedhof, ein Stil, der aus Skandinavien kam.
Erreichen kann man ihn mit der U-Bahn U6 (Richtung Großhadern). Von der Station Holzapfelkreuth sind es etwa 10-12 Minuten zu Fuß. Für Autofahrer gibt es einen Parkplatz an der Ostseite der Fürstenrieder Straße. Wenn man von der Innenstadt kommt, ist es etwas kompliziert. Lassen Sie sich vom Navi führen!
Die Aussegnungshalle
Es gibt viele Gründe, einen Friedhof zu besuchen. Um Gräber von geliebten Verstorbenen zu besuchen, um über die Vergänglichkeit des Lebens nachzudenken oder um zwischen vermoosten Kreuzen, einfachen Stelen, verwitternden Steinsarkophagen und lachenden Engeln einen Ort der Ruhe aufzusuchen. Es gibt Friedhöfe, die wegen des unglaublichen Pomps ihrer Grabmäler und figürlichen Darstellungen zur touristischen Sehenswürdigkeit geworden sind, wie der Monumentalfriedhof Staglieno in Genua oder der Friedhof La Recoleta in Buenos Aires.
Im polnischen Przemysl machten mich einst die zerstörten Gräber des jüdischen Friedhofs tief traurig, in einem alten deutschen Friedhof im Böhmerwald musste ich mit Beklemmung über die deutsche Geschichte nachdenken. Was mich besonders fasziniert, ist der Gedanke, dass man in einem Friedhof nicht nur unzählige Gräber findet, sondern dass diese mit ebenso zahllosen Geschichten verbunden sind. Es ist, als ob diese Geschichten noch in der Luft schwebten, als mochten sie unbedingt noch „gelesen“ und in Erinnerung gebracht werden.
Freizeitnutzungen in Friedhöfen werden manchmal mit einer gewissen Skepsis begegnet. Sie werden als pietätlos und störend empfunden oder gar rundweg abgelehnt. Friedhöfe wie der Münchner Waldfriedhof sind aber wegen ihrer ruhigen Atmosphäre und des beeindruckenden Baumbestandes längst zu geschätzten Orten für die Naherholung geworden. Der Wandel vom Friedhof zum Park braucht eben seine Zeit, und seien es Generationen.
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Das Konzept, einen Friedhof ohne die üblichen strengen geometrischen Formen zu schaffen, wurde von dem Friedhofsarchitekten und Stadtbaurat Hans Grässel entwickelt. 1905 begann er mit den Arbeiten im ehemaligen Hochwaldforst von Schloss Fürstenried. 1907 war der alte Teil des Waldfriedhofs mit 35.000 Grabstätten fertiggestellt.
In dem bereits an einigen Stellen lichten Nutzwald schuf Grässel Platz für Haine und Lichtungen mit Grabfeldern. Die Gräber wurden so eingebettet, dass der Waldcharakter erhalten blieb. Es gibt oft keine deutlich sichtbare Grenze zwischen den einzelnen Grabparzellen. Daher stehen viele Gräber einfach wie mitten im Wald. Die Wege ähneln Waldpfaden. Sie verlaufen fast planlos zwischen den Bäumen und verlieren sich zwischen diesen, nur um hier und da den Blick auf eine Lichtung mit Gräbern freizugeben.
Wenige Schritte weiter verdecken Bäume und Büsche wieder den Blick. Man wähnt sich in einem ganz normalen Wald. Besonders im alten Teil des Friedhofs ist die Aura eines „heiligen“ Waldes auf Schritt und Tritt zu spüren.
Viele Denkmäler sind derart von Moos und Efeu bewachsen, dass sie sich kaum vom Hintergrund des Waldes abheben. Andere sehen so aus, als seien sie erst gestern in Stein gemeißelt worden.
Pietà auf einem großen Sockelquader
Der Waldfriedhof ist mit seinen wertvollen Steinmetzarbeiten auch ein Ort der Kunst und Kulturgeschichte. So kann man ihn auch als den größten Skulpturenpark Deutschlands betrachten. Kleine und große Gräber, monumentale Ruhestätten, unscheinbare und kunstvoll geschmiedete Kreuze, christliche und weltliche Skulpturen, konservative und moderne Formen – man findet hier alles.
Von 1963 bis 1966 erweiterte der Gartenarchitekt Ludwig Roemer den Friedhof um den neuen Teil mit 24.000 Gräbern. 1955 wurde auf dem Münchner Waldfriedhof das erste islamische Grabfeld Deutschlands geschaffen. Heute besitzt der Waldfriedhof insgesamt 59.000 Grabplätze.
Ein Spaziergang in alten Teil des Friedhofs gleicht einem Naturerlebnis mit Kunsteinlagen. Die Pfade sind geschwungen und kurvig, man kann sich leicht verlaufen. Ich wandere ziemlich ziellos in diesem Wald, nur dem Gefühl nach in Richtung Südwesten, wo sich der neue Teil des Friedhofs befindet mit seiner offenen Landschaft und einem kleinen See. Dabei entdecke ich kleine idyllische Ecken, interessante Skulpturen und verliere mich beim Betrachten mancher Gräber in die merkwürdigsten Gedanken. Es ist – das hat sicher auch mit dem sanften Nachmittagslicht zu tun – überhaupt nichts Düsteres dabei.
Die Aussegnungshalle (im neuen Teil)
Der neue Teil des Waldfriedhofs beherbergt unter anderem den italienischen Militärfriedhof, den neuen jüdischen Friedhof, einen Gedenkstein der Opfer der Roten Armee und ein Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen.
Von der neuen Aussegnungshalle der Architekten Eduard Delisle und Erich Wirth hat man einen herrlichen Ausblick über einen kleinen See und das angeschlossene Biotop.
See und Biotop
Ganz in der Nähe des Sees finde ich eine Stelle mit winzigen bunten Gräbern, auf denen Windspiele rotieren, Spielzeugautos parken, Lego-Bausteine Akzente setzen. Mein erster Gedanke: „entzückend, fantasievoll, niedlich!“. Der positive Eindruck weicht aber in Sekundenschnelle einem Gefühl des Entsetzens und der Trauer. Mir schießen Tränen in die Augen. Denn es handelt sich um eine Grabanlage für Kinder und Föten.
Mit dieser Anlage im Waldfriedhof steht den Müttern, Vätern und Angehörigen ein würdevoller Ort zur Verfügung, an dem sie der Trauer um ihr verstorbenes Kind Raum geben können. Den Angehörigen werden große Kiesel zur Verfügung gestellt, die bemalt oder mit dem Namen des Kindes versehen und am Bestattungsplatz abgelegt werden können. So erhält jedes Kind ein individuelles Grabzeichen.
Den Spaziergang durch den Waldfriedhof könnte man freilich auch als Spaziergang durch die Geschichte Münchens und seiner Bewohner gestalten. Man kann auf die Suche nach den Gräbern von Münchner Prominenten gehen. Der Schriftsteller Michael Ende ruht hier, der Nobelpreisträger Paul Ritter, der Schriftsteller Frank Wedekind, Zirkuspersönlichkeiten der Familie Krone und viele mehr.
Ein Ort der Selbstdarstellung
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