WESTEND
14. JULI 2020
Schwanthalerhöhe (nach dem Schöpfer der Bavaria, Ludwig Schwanthaler, benannt) ist der offizielle Name des ehemaligen Arbeiter- und Handwerkerbezirks. Aber so nennt das Westend kaum jemand.
Mein Spaziergang beginnt an der U-Bahn-Station Schwantalerhöhe in der Heimeranstraße (U4/ U5). Von hier gehe ich nach Süden, den Hans-Dürmeier-Weg entlang. Nach knappen 60 m sticht ein markantes Einzelgebäude ins Auge, der Wohnturm Park Plaza. Er ist Teil des neuen Stadtquartiers, das entstand, als die (alte) Messe München im Jahr 1998 in die (neue) Messestadt Riem umzog. Es entstanden auf dem Areal 1.400 Wohnungen, zahlreiche Bürokomplexe und das Verkehrszentrum des Deutschen Museums.
Der genannte Wohnturm des Münchner Büros Otto Steidle & Partner ist das Wahrzeichen des neuen Stadtviertels. Mit seinen 44 Metern Höhe nimmt das Hochhaus die Stelle des einstigen Messeturms ein. Die kräftige Farbgebung – warmes Orange – ist ein Markenzeichen des Münchner Architekturbüros.
Wohnturm Park Plaza
Von dort sind es nur wenige Minuten zum Verkehrszentrum. Ein Besuch dieses Ablegers des Deutschen Museums ist zu empfehlen. Auf 12.000 Quadratmetern werden zahlreiche Kraftfahrzeuge, Lokomotiven, Personenwagen, Fahrräder und Straßenbahnen gezeigt. Leider sind Tickets zurzeit (wg. Corona) nur online und mit festem Besuchsdatum erhältlich.
Für weitere Details (z.B. Baudenkmäler, Fahrradwege, Schulsprengel etc.) siehe auch den Bayern-Atlas: Stadtbezirk 8: (Schwanthalerhöhe)
Mit 4,50 Metern Höhe ist die skurrile Skulptur Sweet Brown Snail auf dem Platz vor dem Verkehrszentrum nicht zu übersehen. Die Schnecke, die dem Kunstwerk als Vorlage diente, war eine kleine Schnecke aus Ton, die mit einem anderen Kunstprojekt der beiden Künstler Jason Rhoades und Paul McCarthy in Zusammenhang steht.
Schneckenskulptur „Sweet Brown Snail“
Die Skulptur nimmt bewusst Bezug auf das benachbarte Verkehrsmuseum mit den assoziierten Themen der Langsamkeit und der Mobilität: Die Schnecke steht in ironischem Gegensatz zum Traum von Geschwindigkeit, verkörpert aber gleichzeitig mit ihrem tragbaren Schneckenhaus die ewige Sehnsucht nach unbegrenzter Mobilität.
Am Bavariapark entlang gehe ich zurück bis zur Ganghoferstraße, an der ich zu einem weiteren interessanten Kunstobjekt gerate. Versteckt im kleinen Innenhof der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG steht eine Doppelspirale aus Stahl, die Endlose Treppe des dänischen Künstlers Ólafur Elíasson. Den meisten Touristen (aber auch Münchnern) dürfte dieses Kunstwerk verborgen bleiben. Man verirrt sich schließlich nicht „zufällig“ in die Ganghoferstraße 29.
Endlostreppe
Die Treppe vermittelt einen endlosen Kreislauf von auf und ab und ist vermutlich die einzige Treppe auf der Welt, auf welcher man beim Auf- und Absteigen nicht die Richtung wechseln muss. Einzig das (temporäre?) Betreten-Verboten-Schild hält mich davon ab, mich hinaufzuschlängeln.
Die Entstehung der Schwanthalerhöhe ist eng mit der, etwa um 1840 hier einsetzenden Industrialisierung verknüpft, in deren Folge gründerzeitliche Arbeiterquartiere entstanden. So war das Westend, das einmal Sendlinger Höhe hieß, ursprünglich ein Arbeiterviertel. Mit den Arbeitern kamen die Häuser aus der Gründerzeit. Noch heute stehen viele der alten Gebäude. Fast die Hälfte davon soll aus der Zeit vor 1919 stammen.
In der Kazmairstraße
Während die Südseite der Heimeranstraße ausschließlich von moderner Architektur geprägt ist, beginnt auf der anderen Straßenseite das „alte“ München. Über die Ganghoferstraße komme ich zur Kazmairstraße, eine Straße, die sich nach wie vor sehen lassen kann. Wunderschöne denkmalgeschützte Fassaden mit Erkern und reichem Putzdekor, barockisierende Mietshäuser sowie Jugendstilbauten aus dem Ende des 19. Jahrhunderts mit Erkern, Loggien, reichem Putzgliederung und plastischem Dekor sind ein Augenschmaus für Nostalgiker. Von den extremen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg blieb das Viertel weitgehend verschont.
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Die Bergmannstraße entlang bewege ich mich nach Norden ins Herz dieses Viertels. Anfang der 1970er-Jahre begannen im Westend umfangreiche Sanierungen – mit der entsprechenden Gentrifizierung. Heute sind zahlreiche Wohnanlagen bestens renoviert, aber trotzdem hat das Viertel seinen Charme behalten. Immer noch finden sich hier kleine Läden, Kneipen und eine Multikulti-Gemeinschaft, die ihre Miete noch bezahlen kann. Diesem verbliebenen, quasi „bohemehaften“ Charakter ist es auch zu verdanken, dass sich hier eine reiche Street-Art-Kultur etabliert hat.
In der Bergmannstraße
Der Gollierplatz mit seiner geschlossenen Bebauung an der Nordseite, der aufgelockerten Bebauung im Süden und mit den sich östlich anschließenden Wohnblocks ist als Beispiel für ein um die Jahrhundertwende planmäßig angelegtes Stadtteilzentrum ein Ensemble von städtebaulicher Bedeutung.
Bergmann- Ecke Gollierstraße
Der Vier-Nymphen-Brunnen am Gollierplatz („Nymphenbrunnen“) wurde 1938 von Elmar Dietz (1902-1996) geschaffen und besteht aus einer Schale aus der das Wasser in das darunter liegende Becken fließt aus einer aus vier Nymphen bestehende Figurengruppe.
Nymphenbrunnen am Gollierplatz
Das Westend hat den zweithöchsten Ausländeranteil aller Münchner Stadtteile. Rund 46,1 Prozent der Bevölkeneurrung hat Migrationshintergrund. Mehr als 60 Prozent der hier wohnenden Menschen leben alleine. Im Schnitt wohnen hier etwas weniger Familien mit Kindern als in anderen Gegenden der Stadt.
Hinterhofidylle
Wie bereits erwähnt, hat sich in München in den letzten Jahren eine beachtliche Street-Art-Szene etabliert, auch Urban Art genannt. Ich spreche ungern von Graffiti, weil ich mit diesem Wort auch die unzähligen illegal besprühten Wände assoziiere, die selten über das Niveau von Schmierereien reichen. Inzwischen wurde in München ein legaler Rahmen für Kunst an Wänden geschaffen. Jedenfalls haben die Größen der Street-Art-Szene wie BLU, ESCIF, Shepard Fairey und Mark Jenkins München für sich entdeckt.
Ericailcane (1980) ist das Pseudonym eines italienischen Künstlers dessen künstlerische Arbeit vor allem Graffiti, Streetart, Illustrationen und Zeichnungen umfasst. Er gehört zu der neuen Generation europäischer Straßenkünstler, die die Gestaltung des öffentlichen Raums revolutioniert haben. Seine Werken formulieren meistens Konsum- und Kapitalismuskritik.
Gentrification von Ericailcane
In diesem Werk symbolisiert der Specht den rücksichtslosen Investor, der in das (Baum-)Haus ein großes Loch geschlagen hat und die Larven der Ameisen frisst. Diese formieren sich schließlich zum Widerstand und verbünden sich mit den Glühwürmchen, um gemeinsam zu kämpfen. Die Moral von der Geschichte: Nur gemeinsam kann man sich gegen rücksichtslose Investoren verteidigen.
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WHOLETRAIN ist ein hochspannendes, emotional packendes Drama, das zum ersten Mal tief in den geheimen Kosmos der Graffiti-Kultur eintaucht. Atemlos pendeln die Hauptfiguren zwischen zwei Welten – ihrem persönlichen Alltag und dem Leben in der Graffiti-Szene. Auf einzigartige Weise gelingt es Florian Gaag, dem Zuschauer eine bislang kaum dokumentierte Subkultur authentisch und lebendig nahezubringen. | |
Nach gut 8 Monaten Planung, Vorbereitung und Kommunikation konnte der Verein Positive-Propaganda e.V. zusammen mit amerikanischen Künstlern 2014 die erste großformatige Arbeit in Mitteleuropa mit mehr als 500qm Fläche an der Fassade eines Sozialbaus in der Bergmannstraße realisieren.
Weil aber eine Sanierung des Gebäudes lange überfällig gewesen war und das zehntausende Euro teuere Kunstwerk ziemlich düster aussah, stand dieses länger in der Kritik. Eines Tages machten dann Unbekannte dem zweifelhaften Kunstwerk ein Ende. Vermutlich nutzten sie mit Farbe gefüllte Feuerlöscher, um es zu übersprühen. So wurde im Auftrag der Stadt die Häuserfront erneut bemalt, diesmal aber mit heiteren Comic-Figuren.
Wandmalerei in der Bergmannstraße
Mehr als die Hälfte des Baubestandes im 8. Stadtbezirk (Westend) stammt aus der Zeit vor 1945 und ist heute weitgehend saniert. Alle Baustile dieser Zeit – insbesondere die historisierenden – sind hier vertreten. Östlich der Bergmannstraße findet man sehr oft jenen der Neorenaissance, westlich beherrschen barockisierende Baustile das Straßenbild. Die Westendstraße und die Schwanthalerstraße sind zwei Hauptadern dieses Viertels. Schöne alte, unter Denkmalschutz stehende Häuser aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts wechseln sich ab mit mehr oder weniger unauffälligen – bis hässlichen – Neubauten.
Westendstraße, deutsche Renaissance
Das Westend ist heute ein Stadtteil, in dem Kinder und Familien wieder gerne leben. Es gibt Plätze, an denen sich Menschen treffen können, Ruhezonen in begrünten Hinterhöfen, Orte für Alte und Junge. Es ist ein Viertel, in dem man zum Bäcker, zum Metzger und in die Läden für den alltäglichen Bedarf auch heute noch zu Fuß gehen kann.
Jugendzentrum
In Hinterhöfen und Durchgängen gibt es zahlreiche kleine Paradiese. Beispielsweise ist zwischen der Schrenk- und der Westendstraße im Zuge der Sanierung eine Gemeinschaftsgrünfläche mit unterschiedlichen Nutzungsbereichen – inklusive Kinderspielplatz – entstanden.
Spielplatz/ St.Benedikt-Kirche
Das Westend war schon immer ein buntes Viertel – Hier wohnten viele Gastarbeiter der ersten Generation. Das Bunte hat sich auch auf viele Häuserfassaden übertragen.
In der Schwanthalerstrasse
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