WERKSVIERTEL
10. März 2022:
Wenn man sich im Internet über das Werksviertel erkundigt, bekommt man zweierlei präsentiert: einerseits Bilder eines chaotisch anmutenden Viertels, in dem die Fassaden von heruntergekommenen Fabrikgebäuden mit Graffiti und Street Art bemalt sind, andrerseits werbeprospektreife Lobeslieder auf die Architektur eines neu geplanten Stadtviertels, welches „Leben, Wohnen und Arbeiten auf einzigartige Weise verbindet.“ Ein von Stararchitekten hochgezogener neuer Stadtteil, der „perfekt an die vorhandene Infrastruktur angebunden ist und sich durch Vision und Innovation auszeichnet.“
Von welcher Richtung man sich dem Viertel auch nähert, es herrscht rege Bautätigkeit. Baukräne ragen in den Himmel, Bauzäune versperren den Blick. Tiefe Gruben lassen an ein Schlachtfeld denken. Das Werksviertel wächst, dehnt sich aus. Wohnblöcke für mehr als tausend Bewohner, Bürogebäude und der neue Münchner Konzertsaal sind im Entstehen.
Überhaupt: Der Münchner Osten zwischen St.-Martin-Straße über das Werksviertel bis Berg am Laim ist nach wie vor der Standort mit der größten Bautätigkeit. Über 200.000 m² Bürofläche befinden sich in diesem Bereich im Bau.
Im Westen des Stadtviertels Berg am Laim, südöstlich des Schienenbereichs des Ostbahnhofs war noch in den 1980er-Jahren ein Gewerbegebiet, etwa begrenzt von Friedenstraße, Rosenheimer Straße, Anzinger Straße und Ampfingstraße. Hier verarbeitete Pfanni Kartoffeln zu Knödeln, stellte Zündapp Motorräder her, schneiderte Konen Kleidungsstücke und produzierte Optimol Schmierstoffe. 1984 ging Zündapp in Konkurs, 1992 wurden die Optimolwerke verkauft und nur wenig später, im Jahr 1996, verlagerte Pfanni seine Produktion von München nach Mecklenburg-Vorpommern. Deren Fabrikgelände wurde aufgegeben.
Das Gelände verwaiste zusehends. Jedoch hielt die Stille nicht lange an. Das Gelände wurde zum Ausgehgeheimtipp. Das nun brach liegende Pfanni- und Optimol-Gelände wurde an den Münchner Unternehmer Wolfgang Nöth verpachtet, der aus dem Gelände eine Art Nachtleben-Vergnügungspark machte, den Kunstpark Ost. Ab September 1996 eröffneten bis zu dreißig Diskotheken, unter denen das bald berühmt gewordene Babylon, ferner Clubs, Bars, Restaurants, Spielhallen, Künstlerateliers und Kleinunternehmen. Es gab Konzerte und Kunst- und Antiquitätenflohmärkte. Bald entwickelte sich der Park zu einer Attraktion, die besonders an Wochenenden zahlreiche Besucher aus nah und fern anzog. Der Kunstpark Ost war er zeitweise Europas größte Partyzone. Ende Januar 2003 wurde der Kunstpark Ost aufgelöst.
Danach wurde ein Großteil des Areals für 20 Jahre für eines der größten zusammenhängenden Nachtleben- und Kultur-Quartiere Europas genutzt, die Kultfabrik. Am 11. April 2003 wurde dieses Kultur- und Veranstaltungszentrum, das direkt aus dem Kunstpark Ost entstanden war, eröffnet. In fast sämtliche Gebäude der früheren Firmen zogen Bars, Clubs, Flohmärkte und kulturelle Einrichtungen ein. Ähnlich erging es dem benachbarten Clubareal auf dem ehemaligen Werksgelände der Optimol Ölwerke.
Die Kultfabrik bestand bis Ende 2015 (manche Teile bis 2016), die Optimolwerke bis 2018. Dann mussten beide dem Stadtentwicklungsprojekt für das neue Viertel weichen. Der Name Werksviertel für das neu entstehende Quartier kam 2012 auf. Irgendwann sollen hier fast 3000 Menschen leben und 12000 arbeiten.
Der interessanteste Teil des Werksviertels ist das rund 10 Hektar große Werksviertel-Mitte (Pfanni-Areal). Es liegt im Herzen des Viertels und ist die Heimat des Umadum-Riesenrads, des Container Collectives und hier soll das neue Konzerthaus des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks gebaut.
UPDATE 30. MÄRZ 2022: Angesicht der aktuell hohen Ausgaben des Staates stellt Bayerns Ministerpräsident Söder den Bau des lange geplanten und vermutlich mindestens eine Milliarde Euro teuren Münchner Konzertsaal infrage. „Wir können nicht alles unendlich finanzieren“, meinte Söder. Zuvor hatte schon der bayerische Kunstminister Markus Blume Verzögerungen beim Bau des Konzertsaals angedeutet. Ein Baubeginn 2025 sei „ambitioniert“.
Erreichbar ist das Werksviertel mit allen Verkehrsmitteln, die am Ostbahnhof halten. Ein zurzeit noch nicht barrierefreier Zugang durch ein Fußgänger- und ein Radtunnel führen zur Friedenstraße.
Direkt am Eingang zum Werksviertel-Mitte türmen sich alte Schiffscontainer in knallbunten Farben. Willkommen im Container Collective. 39 ausrangierte Schiffscontainer auf rund 500 Quadratmetern bieten Platz für Handwerk, Gastronomie, Kunst und Kultur, Einzelhandel.
Container mit traditioneller Thai Massage
In einem der Container hat sich die Juwelierin Valérie Tisserand einquartiert. Der bekannte Münchner Street-Art-Künstler Loomit hat den Laden „L'Atelier de Valéries“ künstlerische gestaltet.
L'Atelier de Valerie
Von der echten Currywurst der Heissen Ecke auf dem Kiez, den Ankerklamotten, Pfeffer aus der Speicherstadt bis hin zu Schmuck aus Segeltau sowie Kaffee aus einer der ältesten Kaffeemanufakturen der Hansestadt findet man im Hamburg Container etwas für den eigenen Geschmack oder zum Verschenken.
Hamburg Container
Seit Herbst 2017 steht hier auch die im Stil einer Berghütte gebaute Knödel-Alm, die exklusiv ab 30 Personen für Privat- und Firmenfeiern sowie für stimmungsvolle Weihnachtsfeste gebucht werden kann.
Knödel-Alm
Ob es auch über 2022 hinaus mit der Knödel-Alm und dem Container Collective weitergeht oder ob der Grundstückseigentümer ein 26 Meter hohes Gebäude mit 15.000 Quadratmetern Geschossfläche errichtet, ist noch offen. Noch scheint man sich den Luxus zu leisten, den Platz nicht zu verplanen.
Immerhin sollen etablierte Einrichtungen erhalten bleiben: so beispielsweise die „Nachtkantine“ oder die „Tonhalle“. Ein anderer Bestandsbau wurde zum Gründerzentrum und die Kartoffelhalle zum Musicaltheater „Werk 7“.
Tonhalle
In der TonHalle finden vor allem Pop- und Rockkonzerte statt. Die Halle ist aber auch für Messen, Tagungen, Präsentationen und Firmenevents nutzbar.
Ich begebe mich auf einen unsystematischen Streifzug durch das Viertel, mehr an der Ästhetik und der „Magie“ des Ortes orientiert als an der Architektur und dem Funktionalem interessiert.
So genieße ich das Cafe im WERK1 und seine surrealen Figuren bei einem preiswerten Mittagessen und erfahre fast nebenbei, dass dieses Gebäude während der Pfanni-Ära das Verwaltungsgebäude der Pfanni-Kartoffeln war. Heute ist es Heimat für 40 digitale Start-ups und Co-Worker. WERK1 war eines der ersten Projekte des neu entstehenden Werksviertel-Mitte. Unter anderem sind Start-ups aus den Berei­:chen Digital Health, Logistik, Mobility, Games, Robotics und viele mehr hier untergebracht.
Im Cafe WERK1
Zentrale Anlaufstelle im Werksviertel-Mitte ist das in Orange gehaltene Gebäude mit dem markanten Schriftzug WERK3. Ein Highlight ist die Stadtalm auf dem Dach des Gebäudes. Auf 2.500 Quadratmeter grasen hier Walliser Schwarznasenschafe, summen mehrere Bienenvölker und gackern frei laufende Hühner. Es handelt sich um eines von vielen Nachhaltigkeitsprojekten im Viertel. Die Schafe können nur im Rahmen der öffentlichen Führungen in Augenschein genommen werden. Eine Möglichkeit die Schafe zu sehen, ist eine Fahrt mit dem Riesenrad.
Im WERK3 findet man Bars, Imbissläden und Restaurants wie der Aleppo Grill, das Thai Restaurant Khanittha, das Hawaii Restaurant Aloha Pole oder das kleine Restaurant für indisches Streetfood und Currys. Also alles was in der Gastro- Szene in ist.
Imbissläden im WERK3
Bereits 2012 wurde der Neubau des Bürohochhauses Medienbrücke fertiggestellt, dessen Büros überwiegend an Unternehmen der Medienbranche vermietet sind. Das Architekturbüro Steidle Architekten errichteten das Gebäude nach Zeichnungen des verstorbenen Architekten Otto Steidle.
Medienbrücke von Steidel Architekten
Gläserne Fassaden, Kaskadentreppen, eine doppelte Raumhöhe und umlaufende Balkone, eine flexible Galeriearchitektur durch eingeschobene Würfel sowie ein Sonnenschutz, der ebenfalls außen angebracht ist, sind die Charakteristiken des WERK12, das vom Architekturbüro MVRDV mit Sitz in Rotterdam entworfen wurde. Das WERK12 erhielt 2021 den Architekturpreis des Deutschen Architekturmuseums.
WERK12 (im Hintergrund WERK4)
Das 86 Meter hohe WERK4, das auf einem alten Kartoffelsilo entstanden ist, ist eines der spektakulärsten Gebäude der Stadt. Während in den oberen Etagen ein hochwertiges Adina Apartment Hotel mit 234 Studios und Apartments untergebracht ist (es rühmt sich als „höchstes Hotel der Stadt“), dienen die unteren Geschosse als preisgünstiges wombat‘s-Hostel mit insgesamt 500 Betten.
Bauzaun, Werk4 und Riesenrad
Hinter dem Bauzaun auf dem Bild liegt die Baustelle für das Konzerthaus.
Es ist das höchste transportable Riesenrad der Welt. Aus fast 80 Metern Höhe sieht man vom Umadum (bayerisch für „rundherum“) auf das Werksviertel hinunter. Insgesamt gibt es 27 klimatisierte Gondeln, die alle mit Öko-Strom im Kreis fahren. 30 Minuten dauert die Fahrt. Mit etwas Wetterglück hat man einen einzigartigen, atemberaubenden Rundumblick über München bis hin zu den Alpen.
Os Gemeos (die Zwillinge) kommen aus São Paulo und gehören zu den bekanntesten Street-Art-Künstlern der heutigen Zeit. Das Mural „Mexikaner mit einem Zebra und einem Hahn“ ist eines der Ältesten auf dem Gelände und entstand bereits im Jahr 2004. „Die Wand war einfach perfekt für einen Giganten, erzählt Loomit, der auch an diesem Kunstwerk mitgewirkt hat. Er war für das Zebra und den Hahn verantwortlich. Das Zebra ist ein kultureller Hinweis auf den Karneval im Norden Brasiliens.
Mural von Os Gemeos
Mein Besuch des Werksviertels dient weniger der innovativen Konzeption dieses Viertels, seiner Gestaltung durch Stararchitekten, seinen hochmodernen Bürokomplexen und Wohnlösungen, sondern der Kunst, in diesem Fall der Street Art. Denn de facto ist das Areal – noch – eine einzige große Freiluft-Galerie. Das Werksviertel ist einer der besten Orte, um die Arbeit bekannter Street-Art-Künstler zu bestaunen. Es wird mich sicher immer wieder zu dieser Großbaustelle mit den unzähligen Wandmalereien ziehen.
Bemalte Tür auf WERK5
BUCHTIPP: | |
Graffiti XXL: Street Art im Großformat | |
Dieser reich illustrierte Bildband bietet einen umfassenden Überblick über einen rasant wachsenden urbanen Trend. Das ideale Geschenk für alle Fans von Graffiti-Kunst, Street Art und Urban Art! Noch gelten sie als echter Geheimtipp: Murals, spektakuläre Wandgraffitis in Übergröße. Doch ihre Fangemeinde wächst und wächst. | |
Seit über 20 Jahren ist das Werksviertel-Mitte einer DER Orte in München, wenn es um Street-Art geht. Man findet hier zahlreiche Hinterlassenschaften nationaler und internationaler Künstler. Loomit ist einer der bekanntesten Künstler hier. Er lebt seine Leidenschaft bereits seit über 20 Jahren auf dem Gelände aus. Loomit ist also fast schon ein Urgestein. Seine Arbeiten finden sich überall wieder.
Zum Stroke Art Fair 2018 hat sich die Ate Crew , bestehend aus den Künstlern Erze und Sidas, auf den Durchlüftungsanlagen auf dem Dach des ehemaligen Kraftwerks ausgetobt.
Die Künstler des Münchner Graffiti-Künstler-Kollektivs, bestehend aus LANDO (Melander Holzapfel), SCOUT (Werner Walossek) und Liom Fleischmann, haben im Oktober 2021 am WERK9 eine großflächige Hauswand gestaltet, um auf die schrecklichen Folgen von Bombenangriffen auf die Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen.
Stop bombing civilians
Mit der Aktion wollten die Künstler die Kampagne „Stop Bombing Civilians“ der gemeinnützigen Hilfsorganisation Handicap International unterstützen. Währen der Ukraine-Krieg tobt, wirkt das in schwarzen und grauen Tönen gehaltene Wandgemälde wie eine düstere Profezeiung.
Das europäische Female Graffiti and Street Art Festival Hands Off The Wall fand zweimal (2020 und 2021) im Werksviertel-Mitte statt. Ziel des Festivals war es, Frauen in der Street Art eine größere Bühne zu geben. Unter der Leitung der österreichischen Künstlerin Chinagirl Tile setzten die herausragendsten Künstlerinnen der Szene ihr Konnen in das Spotlight der Aufmerksamkeit. Künstlerinnen wie Female Lead Crews, QueenKong, AFC oder Bona standen im Mittelpunkt. Gemalt wurde auf 25 Wänden, die sich über das gesamte Werksviertel-Mitte-Gelände verteilen.
An der Rückseite des WERK9 am südlichen Rand des Areals befindet sich eine sehr beeindruckende Mauer, die im Rahmen dieses Festivals von Künstlerinnen verziert wurde.
Für echte Frühlingsgefühle sorgt die bunte Blumenfrau der Künstlerin Beastiestylez.
Murals von Caro Pepe und Video Oner
Mural von Livi.po
Mural von Devita
Auch der brasilianische Künstler Andreas Brandani, besser als &bdqui;Elefantenmann“ (Elephant Man) bekannt, hat 2013 seine Spuren in der (damaligen) Kultfabrik hinterlassen. Das Ergebnis seiner Streifzüge ziert seitdem die Rückseite des ErlebnisKraftwerks (WERK5).
Andrea Brandani
Freilich habe ich bei diesem Spaziergang im Werksviertel nur flüchtige Eindrücke gesammelt. Weder habe ich Rooftopbars besucht, in Restaurants gegessen, Einblicke in Ateliers bekommen, noch habe ich Galerien, Konzerte und Deutschlands größtes Riesenrad erlebt. Das könnten Ziele für zukünftige Besuche sein.
Was ist mein erster Eindruck von diesem Viertel? Aus einem Freiraum, in dem sich jahrelang Bars, Clubs, Flohmärkte und vor allem eine freie Kunst- und Kulturszene etabliert hatten, wird ein urbanes Trend-Quartier, eine todschicke Wohngegend mit teuren Hotels und wuchtigen Büro- und Wohngebäuden. Ich hoffe, dass das Tauziehens zwischen Investoren und Nutzern von kulturellen Nischen und Freiräumen nicht mit dem Sieg der Ersteren endet.
An die Pfanni-Vergangenheit erinnern ein Kartoffelmuseum, die Namen der Häuser (wie „WERK3“) und mancher Straßen (Am Kartoffelgarten“, Püreeallee). De Signalfarbe Orange, Markenzeichen von Pfanni, ist allgegenwärtig. Manches alte Fabrikgebäude wurde umgebaut, anderes abgerissen.
WERK7: heute Veranstaltungshalle
Immerhin sind Kunst und Kultur im Fundament des Werksviertels fest verankert. Das Viertel soll ein Treffpunkt für Kunstinteressierte aller Art werden (Stichpunkt whiteBOX). An den offenen Ateliertagen kann man den Kreativen über die Schulter schauen. Bildhauerei, Malerei, Fotografie, Videokunst, Graffiti, Grafik und experimentelle Filme – alles soll hier vertreten sein.
Werden die Container verschwinden? Wird es in Zukunft noch Wände geben, an denen sich Street-Art- Künstler austoben können? Ich kann nur hoffen, dass, wenn alle Bauzäune einmal abgerissen sind und alle hochgelobte und prämiierte Gebäude stehen, nicht auch das verschwindet, was den bisherigen Charme des Viertels ausmacht. Jedenfalls war der Zeitpunkt, an dem ich das Viertel kennengelernt habe, gerade richtig.
BÜCHERTIPPS: | |
Architekturführer München | |
Über 400 Bauten – davon 27 Neuaufnahmen – der Münchner Architekturgeschichte vom Mittelalter bis zum Beginn des neuen Jahrtausends werden mit einem informativen Text vorgestellt und in aktuellen Fotos und Grundrissen dokumentiert. Auswahl der neuen Objekte | |
Streetart München: Reiseführer für Münchner | |
Das Buch ist eine Art Best Of, mit Texten und Fotos aus den beiden Vorgängerbüchern sowie einigen neuen Arbeiten. Münchens Streetart-Experte Martin Arz konzentriert sich ausschließlich auf Murals und Graffiti. Zudem gibt es einen Rückblick auf die Anfänge der Münchner Graffiti-Bewegung in den 80er-Jahren. | |